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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Apostasie

Titel: Apostasie

Stichwort: Rom: Bedeutung; Kategorie der Quantität als Standard

Kurzinhalt: Ein Angriff auf die Bedeutung Roms war deshalb ein Angriff auf die Engführung der drei zivilisatorischen Stimmen der Antike, die der westlichen Zivilisation des Mittelalters gelang ...

Textausschnitt: c. Die Bedeutung Roms
13a Die zweite Bemerkung bezüglich der relativen Bedeutung Russlands und Roms war ähnlich revolutionär wie die erste, insofern sie die Kategorie der Quantität als Standard einführte und dabei die Funktion Roms als einen konstituierenden Faktor der westlichen Universalität in Frage stellte. Die Bedeutung Roms war nie eine Frage seiner Größe gewesen. Die westliche Zivilisation, so wie sie aus dem Mittelalter hervorging, beruhte auf dem einzigartigen und prekären Gleichgewicht zwischen den Elementen der in sie eingeflossenen antiken Zivilisationen: dem hellenischen Rationalismus, dem subjektiven Spiritualismus Israels und der Ordnung römischer Jurisdiktion, welche sowohl die persönliche Willensäußerung wie auch die öffentlichen Ämter lenkte. Die koine der hellenistischen Zivilisation, die Universalität des römischen Imperium und der Katholizismus der Kirche verschmolzen mit dem christlichen imperialen Mittelalter auf einer neuen ethnischen Grundlage. In ihren Transformationen erkennen wir sie als den scholastischen Intellektualismus und die weltlichen und geistigen Ordnungen der westlichen Menschheit. Das Bindeglied zwischen den beiden Welten - der antiken und der mittelalterlichen - ist die Kirche: In der römischen Periode wuchs die Kirche mit dem Reich und dessen hellenistischer Zivilisation zusammen, während im Mittelalter die weltliche Ordnung der Königreiche der Barbaren mit der geistigen und zivilisatorischen Tradition der Kirche zusammenwuchs. Und der Kirche war diese Verknüpfung zwischen den beiden Welten dadurch möglich, weil sie nicht nur ihren eigenen spirituellen Katholizismus ins Mittelalter hineinführte, sondern auch den universalen Anspruch der imperialen Ordnung Roms übermittelte, indem sie den Kaiser des Westens in die doppelte Leitung der christlichen Menschheit einbezog. (Fs)

14a Ein Angriff auf die Bedeutung Roms war deshalb ein Angriff auf die Engführung* der drei zivilisatorischen Stimmen der Antike, die der westlichen Zivilisation des Mittelalters gelang. Dieser erstaunliche Kontrapunkt von drei Zivilisationen mit einer sie aufnehmenden vierten ist das charakteristische Merkmal, durch das sich die westliche Zivilisation von allen anderen Zivilisationen der Menschheit unterscheidet. Er ist die Quelle ihres Reichtums und ihrer Weite, wodurch sie den anderen Zivilisationen objektiv überlegen ist. Die Vereinigung von Spiritualismus und Rationalismus ist die Quelle ihrer Dynamik, und die Verschmelzung der drei Universalismen der Antike ist die Quelle des imperialen Pathos des Europäismus. Aber es ist auch Quelle der Gefahr, der keine andere Zivilisation in gleicher Weise ausgesetzt ist, der Gefahr nämlich, dass die einzelnen Kräfte ihrem eigenen Impuls folgen könnten, falls die wundersame Balance an irgendeinem Punkt gestört würde. Solche Störungen könnten von außen durch historische Veränderungen der Machtverhältnisse hervorgerufen werden. Die Abschließung des zivilisatorischen, geistigen und politischen Kosmion wie auch des Mythos seiner Universalität vermag die öffentlichen Sentiments nur so lange zu dominieren, wie sich die Pluralität anderer Welten nicht zu stark dem Geist aufprägt. In der römischen Periode konnte das Sentiment der Universalität durch eine großartige Außerachtlassung hinsichtlich des Sassaniden-Reichs aufrechterhalten werden - und einer noch größeren Außerachtlassung hinsichtlich der ferneren Teile des eurasischen Kontinents und Afrika. Das ganze Mittelalter hindurch konnte das Sentiment durch den Expansionismus der Kreuzzüge gegen den Islam aufrechterhalten werden, was die Mohammedaner in die Position einer vorübergehenden Störung von Ungläubigen versetzte, die letztendlich überwunden werden würde. Doch mit dem Vordringen der Türken und Mongolen, mit der Entdeckung Amerikas, mit dem erweiterten Wissen über China und Indien und dem Aufstieg Russlands würde sich unvermeidlich ein Unbehagen in das Sentiment der mittelalterlichen Universalität einschleichen. Wenn die Existenz der Menschheit in der Geschichte überhaupt eine universelle Bedeutung haben sollte, so würde diese auf etwas anderem beruhen als auf dem durch die sich auflösenden Institutionen der Kirche und des Reichs gelieferten Mythos. Die Bemerkung der Marquise du Châtelet löste natürlich keine Revolution aus, sondern nahm die Existenz einer Revolution zur Kenntnis, die in der Tat stattgefunden hatte. Eine intelligente Frau vermochte mit der Unschuld eines Kindes, das den Kaiser ohne Kleider sah, zu formulieren, was sich die größten Geister des siebzehnten Jahrhunderts nur besorgt einzugestehen gewagt hätten. (Fs)

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