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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Wesen und Ausstattung des Menschen

Titel: Kommentar zu: Thomas Summa Thomasausgabe Band06

Stichwort: Kommentar 75, a2,3; Vollwesen (einfach, zusammengesetzt), Teilwesen; Seele: kein Vollwesen, Wesensteil; Denken, Verstandestätigkeit: Unabhängigkeit vom Körper, Organ; Tierseel: im Sein abhängig vom Körper: stoffliche Form

Kurzinhalt: Der körperliche Stoff beschränkt naturgemäß ... Etwas Stoffliches oder Körperliches also, das der erkennende Grund, der alle körperlichen Naturen erkennt, besäße, würde dessen Weite und Aufgeschlossenheit beschränken, ja aufheben ...

Textausschnitt: 2. UND 3. ARTIKEL -- Die Menschenseele selbständig, die Tierseele nicht

476b
1. Es gibt Voll- und Teilwesen, Substanzen und Akzidentien, stoffliche und unstoffliche (körperlose) Formen. Das Vollwesen (das immer auch Substanz ist), wie Pflanze, Tier, Mensch, ist etwas Selbständiges, in sich und für sich Bestehendes, ein "in Wirklichkeit Seiendes", das auf der Linie der Wesenheit keiner Ergänzung, keiner Vervollständigung bedarf. Und wie es für sich besteht, für sich Sein hat, so hat es auch seine Tätigkeit für sich und durch sich: es bedarf auf der Linie der Substanz, der substantiellen Natur, keines Mitgrundes, um tätig zu sein (die Tätigkeitsvermögen, durch die es unmittelbar tätig ist, sind Akzidentien). Denn die Tätigkeit richtet sich nach dem Sein: agere sequitur esse. Hierbei ist es gleichgültig, ob ein solches Wesen wie die körperlichen Dinge, Stein, Pflanze usw. aus Wesensteilen (Teilwesen: Stoff und Form, Körper und Seele) zusammengesetzt oder wie etwa der reine Geist einfach ist. Das zusammengesetzte und das einfache Vollwesen haben Sein und Tätigsein für sich. Teilwesen dagegen wie die stoffliche Form, z. B. die Wesensform des Steines, sowie die Akzidentien (z. B. die Wärme oder ein Vermögen) sind nichts Selbständiges: die stoffliche Form bedarf notwendig des Stoffes, um mit ihm ein zusammengesetztes Wesensganzes auszumachen; das Akzidens bedarf des Trägers, der Substanz, der es anhaftet. Selbstverständlich haben diese Seinsheiten auch keine Tätigkeit für sich, die Tätigkeit gehört dem Zusammengesetzten, bzw. dem substantiellen Träger, an. (Fs; tblStw: Seele)

476c Nun ist aber die menschliche Seele nicht nur, wie jede Seele, kein Körper, sie besitzt auch eine gewisse Unabhängigkeit vom Körper, eine gewisse Selbständigkeit. Thomas beweist dies auf Grund der der menschlichen Seele eigentümlichen Tätigkeit, der Verstandeserkenntis oder des Denkens. Tatsache ist, daß der Mensch durch den Verstand die Natur aller Körper erkennt. Das führt zu der Annahme, daß die menschliche Seele nichts Körperliches in sich enthält, da sie sonst gehindert wäre, alle Körpernaturen zu erkennen. Nach allgemein scholastischer Auffassung muß der Erkenntnisgrund, der entfernte substantielle, die Seele, nicht minder wie der unmittelbare akzidentelle, das Erkenntnisvermögen, seinsmäßig frei, leer sein von dem, was er erkennt: der Gesichtsinn muß der Farbe, der Geschmacksinn des Schmeckenden bar sein, andernfalls würde er an der Erkenntnis des ihm eigentümlichen Gegenstandes gehindert. (Demungeachtet bedeutet das Erkennen selbst ein erkenntnismäßiges Einswerden und Einssein des Erkennenden mit dem Erkannten, vgl. Anm. [4] u. S. 480 ff.) (Fs) (notabene)

477a Der körperliche Stoff beschränkt naturgemäß, denn er ist der Grund der Besonderung, der Vereinzelung dessen, was er aufnimmt (vgl. S. 486 ff.). Etwas Stoffliches oder Körperliches also, das der erkennende Grund, der alle körperlichen Naturen erkennt, besäße, würde dessen Weite und Aufgeschlossenheit beschränken, ja aufheben und so die Erkenntnis aller Körper verhindern. Aus dem gleichen Grund kommt auch kein körperliches Organ als Mitgrund der Verstandestätigkeit in Betracht. (Fs) (notabene)

477b Trotzdem kann der menschlichen Seele nicht die Selbständigkeit eines Vollwesens zugeschrieben werden. Thomas selbst beruft sich zur Begründung ihrer Selbständigkeit nur auf die Verstandeserkenntnis und legt ihr später noch andere Tätigkeiten bei, die sie nicht ohne Beteiligung des Körpers ausführen kann. Er bezeichnet sie ferner als Teil der menschlichen Art (Artnatur; Zu 1). Die menschliche Seele ist also kein Vollselbständiges, kein reiner Geist, da sie ihrer Natur nach Körperform ist. Deshalb unterscheidet Thomas ein zweifaches Selbständiges oder Fürsichseiendes (Zu 1 u. 2). Für sich seiend kann schon genannt werden, was nicht wie ein Akzidens einem Träger innehaftet oder wie eine stoffliche Form notwendig eines Mitgrundes, eben des Stoffes, bedarf, um sein und tätig sein zu können, mag es an sich auch "Teil", Wesensbestandteil (Wesensform) oder Ausdehnungsteil (= Größenteil, z. B. Hand oder Auge) sein. Im Vollsinn aber ist selbständig, was weder wie ein Akzidens innehaftet, noch wie eine stoffliche Form notwendig eines Mitgrundes bedarf, noch auch sonstwie Teil ist. Es besitzt eine in seiner Art vollständige Natur, hat an sich und für sich Sein und Tätigsein (vgl. Anm. [16]). Die Menschenseele ist also selbständig nur im ersten Sinne. Weil sie Wesensteil des Menschen ist, schreibt man richtiger selbst die ihr eigene Tätigkeit des Denkens dem ganzen Menschen zu: "Der Mensch denkt durch die Seele" (Zu 2, vgl. Anm. [7]). (Fs)

477c
2. Während so die menschliche Seele als Grund der Verstandestätigkeit etwas Selbständiges ist, muß der Tierseele jede Selbständigkeit abgesprochen werden, da sie keine Verstandestätigkeit besitzt, die ihr als einer sinnlichen Seele aber zukommende sinnliche Wahrnehmung nicht ohne körperliche Veränderung, folglich nicht ohne körperliches Organ, ohne Körper vor sich geht. Die Tierseele (oder die sinnliche Seele als solche) ist also auch im Sein vom Körper abhängig: sie ist eine "stoffliche" Form. Wohl ist auch sie wie jede Seele (auch die Pflanzenseele) kein Körper (Art. 1); sie hat aber Sein und Tätigsein nur im Wesensganzen und durch dasselbe. Sein und Tätigsein kommen in erster Linie dem aus Seele und Körper Zusammengefügten zu. Als dem Grund der sinnlichen Erkenntnis kommt der Sinnenseele ferner auch jene Erhabenheit über den Stoff zu, die das Erkennende als solches verlangt (vgl. S. 517 f.). Diese Erhabenheit über den Stoff braucht eben kein vollständiges Freisein vom Stoff zu sein, sie ist je nach der Natur des betreffenden Erkennenden ein solches Freisein, durch das dieses zu seiner eigenen Form andere Formen (erkenntnismäßig) aufzunehmen vermag. — "Die Materialisten suchen zwar zugunsten ihrer Weltanschauung den Unterschied zwischen Mensch und Tier zu verwischen, und auch manche neuere Psychologen sprechen von einem Tierverstand. Jedoch ist der wesentliche Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tiere, dem vernünftigen und dem unvernünftigen Sinnenwesen, eine ganz allgemeine Überzeugung. Die neuere Psychologie hat diesen Unterschied auch experimentell nachgewiesen" (GrPh 1, 345 f., wo der Beweis dafür erbracht wird, daß das Tier nur Sinneswahrnehmung und keinen Verstand hat). (Fs)

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