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Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert)

Buch: Der heilige Thomas von Aquin

Titel: Der heilige Summa von Aquin

Stichwort:

Kurzinhalt:

Textausschnitt: Das sinnliche Begehrungsvermögen: Die Leidenschaften
1864 Das sinnliche Begehrungsvermögen muß - im Verhältnis - wie die angeborenen Strebungen der Naturdinge gedacht werden; denn die Anlagen, welche in uns durch die sinnliche Erkenntnis geschaffen werden, haben hier dieselbe Bedeutung wie das, was man in der Außenwelt körperliche Qualitäten nennt1. (528f; Fs)
1865 Diese haben ein doppeltes Ziel: das Passende zu erwerben und das Schädliche fernzuhalten. Ebenso strebt das sinnliche Begehrungsvermögen danach, das zu erlangen, was ihm entspricht, und das zu überwinden, was ihm widerspricht. (529; Fs)
1866 Das sind zwei verschiedene Strebungen, die nicht durch ein gleiches unmittelbares Prinzip erklärt werden können, da nämlich die erste eigentlich passiv [quasi per modum receptionis], die zweite eigentlich aktiv ist. Überdies ist die Anstrengung oft das Gegenteil des Genusses, und sie entfernt von ihm. Ein Tier, das sinnliches Behagen empfand, läßt die Lust um des Kampfes willen, und es läßt sich auch durch das Leiden nicht davon abhalten. Es gibt also in dem sinnlichen Begehrungsvermögen ein Streben, das durch die bloße Begierde nach Genuß nicht erklärt werden kann, wenn diese auch Ausgangs- und Endpunkt dieses Strebens darstellt. (529; Fs)
1867 Tatsächlich entschließt sich das Tier ja unter dem Eindruck eines seiner Lust hingegebenen Tieres zum Kampf, und der Sieg oder die Niederlage lösen sich in ähnliche Eindrücke auf. [sic] Man sagt, daß es hier zwei Vermögen gibt, von denen das eine das andere benutzt und vollendet; das erste ist das konkupiszible, das zweite - sein Schildknappe - ist das iraszible. Jenes ist grundlegender, dieses aber edler; es entspricht dem, was wir bei den erkennenden Vermögen die sinnliche Urteilskraft genannt haben. Es steht der Vernunft näher, von der es eine Art Teilnahme oder Spiegelung ist. (529; Fs)
1868 Daß das Tier begehrt, was ihm angenehm ist, das gehört direkt zu seiner sinnlichen Natur; daß es aber das Angenehme im Stich läßt um des Unangenehmen willen, wenn auch in der Absicht, es in höherem Grade wiederzufinden, das ist eine Art von Vernunft. Daher halten wir auch beim Menschen die Maßlosigkeit im Zorn für weniger schändlich als die Maßlosigkeit im Genuß. Die erstere erniedrigt eine Regel, die zweite dagegen handelt überhaupt ohne Regel2. (529; Fs)
1869 Die verschiedenen Bewegungen des sinnlichen Vermögens nennen wir Leidenschaften. Diejenigen, welche auf das Konkupiszible bezogen sind, sind erstens die Liebe oder die Neigung zu dem wahrgenommenen Gut - als Gut genommen, ohne weitere Besonderheit -, und der Haß als das Gegenteil der Liebe; zweitens das Verlangen oder die Neigung zu dem abwesenden, aber erwarteten Gut und die Furcht als dessen Gegenteil; drittens die Freude oder die Ruhe in dem erlangten oder als erlangt angesehnen Gut, und die Traurigkeit oder die Niedergedrücktheit unter dem Einfluß des gegenteiligen Übels. (529f; Fs)
1870 In bezug auf das Iraszible bezeichnen vier Leidenschaften die verschiedenen Bewegungen der Seele: erstens die Hoffnung, das heißt das Streben nach einem abwesenden Gut, dessen Erwerb zwar schwer, aber doch möglich ist; zweitens die Verzweiflung, die angesichts des Unmöglichen entsteht; drittens die Kühnheit, die durch ein drohendes, aber nicht unüberwindliches Übel her vorgerufen wird; viertens der Zorn, die heftige Neigung, ein Übel durch die Schädigung dessen zu rächen, der es verursacht hat. (530; Fs)
1871 Diese Leidenschaften hat Thomas mit großer Aufmerksamkeit studiert und tiefsinnig erörtert. Seine Abhandlung über die Leidenschaften in der Summa theologica3 ist für jene, die sich ernstlich damit beschäftigen, eine unerschöpfliche Fundgrube; die Abhandlung über die Tugenden4 nimmt die Begriffe noch einmal auf und wendet sie mit einem viel zuwenig beachteten psychologischen und moralischen Sinn an. Alle unsere innern Bewegungen in ihrem Ursprung, ihren Wirkungen und Rückwirkungen werden hier aufgedeckt und in Beziehung gesetzt. Thomas macht sich dabei die Klugheit des Aristoteles und die tiefen Gedanken der Kirchenväter dienstbar; aber er geht weit über den erstern hinaus, und auch die Kirchenväter übertrifft er durch die Kraft einer Zusammenordnung, die keiner von ihnen in dem gleichen Grad besessen hat. (530; Fs)
1872 Wir können hier nur auf diese Abschnitte hinweisen. Wer sie gründlich studiert, wird sicherlich vieles lernen und vielleicht auch - wenn er sieht, wie hier die abstrakten Gedanken des Thomas auf eine konkrete Frage angewandt werden - sich be freunden mit den hohen Abstraktionen der thomistischen Philosophie. (530; Fs)
1873 Es versteht sich übrigens von selbst, daß die Einteilung in das Iraszible und Konkupiszible als allgemeiner Rahmen für uns nicht mehr von Bedeutung ist; es ist eine jener vorläufigen, wenn auch nicht willkürlichen Einteilungen, die der Wissenschaft das Feld für genauere Bestimmungen freilassen. (530; Fs)

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