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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Stichwort: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 7); Psychopathologie 2; Heraklit (kosmos koinon - idios), Aischylos, Platon, Cicero, Chrysipp; existentielle Unordnung (apostrophe - epistrophe); Angst, agnoia, Rationalisierung; Tusculanae Disputationes

Kurzinhalt: 'Diese Veränderung (des Geistes) und dieses Sich-Entfernen von sich selbst geschieht auf keine andere Weise als durch eine vorsätzliche Abwendung (apostrophe) vom logos.'... Ein Mensch ist völlig rasend ... , wenn er unwissend ist (agnoian echon) im ...

Textausschnitt: 32/6 Die Phänomene existentieller Unordnung durch das Sichverschließen gegenüber dem Seinsgrund waren schon mindestens ein Jahrhundert vor den klassischen Philosophen beobachtet und artikuliert worden. Heraklit hatte unterschieden zwischen Menschen, die in der einen und gemeinsamen Welt (koinos kosmos) des logos leben, der das gemeinsame Band der Menschheit ist (homologia), und den Menschen, die in den verschiedenen Privatwelten (idios kosmos) ihrer Leidenschaft und ihrer Einbildung leben, zwischen den Menschen, die ein waches Leben führen, und den Schlafwandlern, die ihre Träume für Wirklichkeit ansehen (B 89). (140f; Fs)

33/6 Und Aischylos hatte die Prometheische Revolte gegen den göttlichen Grund als eine Krankheit oder Wahnsinn (nosos, nosema) diagnostiziert. Platon benutzte dann in der Politeia sowohl die herakliteischen wie die aischyleischen Symbole, um den Zustand von Einklang mit- und Sich-Verschließen gegen den Grund als Zustand existentieller Ordnung und Unordnung zu charakterisieren. Und doch bedurfte es der erschütternden Erfahrungen der ökumenischen Reichsbildungen, und in ihrem Gefolge der existentiellen Desorientierung als Massenphänomen, um die Verbindung zwischen Vernunft und existentieller Ordnung in Begriffen festlegen zu können. Erst die Stoiker prägten die Ausdrücke oikeiosis und allotriosis, ins Lateinische übersetzt als conciliatio und alienatio, um zwischen den beiden existentiellen Zuständen zu unterscheiden, die das Leben der Vernunft ermöglichen bzw. Störungen der psyche bedingen. (141; Fs)

34/6 In den Tusculanae Disputationes referiert Cicero die grundlegenden stoischen Formulierungen: Wie es Krankheiten des Körpers gibt, gibt es auch Krankheiten des Geistes (morbi animorum); diese Krankheiten sind im allgemeinen durch eine Verwirrung des Geistes auf Grund verkehrter Meinungen verursacht (pravarum opinionum conturbatio), die in einen Zustand der Verderbtheit mündet (corruptio opinionum); die Krankheiten dieses Typs können nur auf Grund einer Zurückweisung der Vernunft (ex aspernatione rationis) entstehen; deshalb können Krankheiten des Geistes im Unterschied zu denen des Körpers nie ohne eigene Schuld auftreten (sine culpa); und da diese Schuld nur beim Menschen - weil er Vernunft hat -möglich ist, kommen diese Krankheiten bei Tieren nicht vor.1 (141; Fs)

35/6 Die Analyse, die hinter solchen Formeln steckt, kann aus einer Passage von Chrysipp erschlossen werden: 'Diese Veränderung (des Geistes) und dieses Sich-Entfernen von sich selbst geschieht auf keine andere Weise als durch eine vorsätzliche Abwendung (apostrophe) vom logos.'2. Die apostrophe ist die Bewegung, die der Richtung nach der periagoge oder epistrophe Platons entgegengesetzt ist. Indem der Mensch sich vom Grund abwendet, wendet er sich von seinem eigenen Selbst ab. Entfremdung ist also ein Sich-Entfernen von der menschlichen Natur, die durch die Spannung zum Grund konstituiert wird. (141f; Fs)

36/6 Darüberhinaus treten in diesem Zusammenhang die ersten Versuche auf, die Erfahrung von 'Angst' auszudrücken. Ciceros anxietas in den Tusculanae Disputationes ist in ihrer Bedeutung zu unbestimmt, um uneingeschränkt mit der modernen 'Angst' gleichgesetzt werden zu können. Sie bezeichnet vielleicht nur einen Geisteszustand, der sich unvernünftigen Befürchtungen überläßt.3 Aber Äußerungen, die Chrysipp zugeschrieben werden, machen klar, daß Angst als eine Spielart von Unwissenheit verstanden wird (agnoia). Ein Mensch ist völlig rasend, wird an der betreffenden Stelle gesagt, wenn er unwissend ist (agnoian echon) im Hinblick auf sein Selbst und das, was für sein Selbst von Belang ist. Diese Unwissenheit ist das Laster, das der Tugend wahrer Einsicht (phronesis) entgegengesetzt ist. Sie muß als ein existentieller Zustand charakterisiert werden, in dem die Begierden sich ohne Kontrolle und ohne Steuerung entwickeln, ein Zustand aufgeregter Unsicherheit und überreizter Leidenschaften, ein Zustand von Panik oder Schrecken, weil die Existenz ihre Richtung verloren hat. Diese Beschreibung wird in dem Ausdruck agnoia ptoiodes zusammengefaßt als der stoischen 'Definition' von Wahnsinn (mania).4 Dem zoon noun echon entspricht als sein pathologisches Gegenstück das zoon agnoian echon. (142; Fs)

37/6 Die Erforschung des pathologischen Gegentyps durch die Stoiker präzisiert den Sinn noetischer Existenz. Der kritische Punkt, der beachtet werden sollte, ist der Umstand, daß agnoia, Unwissenheit, als kennzeichnendes Merkmal sowohl im Zustand von Gesundheit (sanitas) als auch von Krankheit (insania) auftritt. Die fragende Unruhe, wie ich die Anfangsphase der noetischen Erfahrung neutral genannt habe, kann entweder der Anziehungskraft des Grundes folgen und sich zu noetischem Bewußtsein entfalten, oder sie kann sich vom Grund abkehren und anderen Anziehungskräften folgen. Die pathologische Entgleisung ereignet sich also in der Phase fragender Unruhe, in der Haltung des Menschen gegenüber der Spannungsstruktur seiner Existenz, und nicht auf den darauf aufbauenden Ebenen, auf denen die Entgleisung dann offenkundig wird in der Diskrepanz zwischen einem gutgeordneten Leben und einer Existenz ohne Orientierung, oder der Diskrepanz zwischen rationaler Artikulation der Realität und den in nicht geringerem Maße artikulierten 'verkehrten Meinungen', den pravae opiniones. (142f; Fs)

38/6 Natürlich ziehen die offenkundigen Symptome der Desorientierung die Aufmerksamkeit in erster Linie auf sich. Aus den Tusculanae Disputationes kann man eine lange Liste von Syndromen zusammenstellen, die ganz modern klingt: rastloses Geldverdienen, Streben nach gesellschaftlichem Prestige, Schürzenjägerei, übermäßiges Essen, Hang zu Delikatessen und Naschereien, Zechen, Reizbarkeit, Ängstlichkeit, Ruhmsucht, Starrsinn, Unnachgiebigkeit und Ängste vor dem Kontakt mit anderen Menschen wie Weiberhaß oder allgemeine Menschenfeindlichkeit. Obwohl eine Symptomatologie dieser Art nützlich ist als Annäherung auf dem Niveau des gesunden Menschenverstands, ist sie jedoch analytisch nicht präzis genug. Denn es gibt nichts auszusetzen an den Leidenschaften als solchen, noch am Genuß von äußeren Gütern und denen des Körpers, noch an gelegentlichen Nachgiebigkeiten oder Exzessen. (143; Fs)

39/6 Wenn die Trennungslinien nicht genauer gezogen werden, wird man zu der Situation kommen, die Horaz in Satiren II 3 lächerlich gemacht hat. Deswegen unterscheidet Cicero sorgfältig zwischen akuten Äußerungen von Leidenschaften und Gewohnheiten, die chronisch geworden sind, zum Beispiel zwischen angor und anxietas, ira und iracundia. Und die Gewohnheitsbildung muß so gravierend sein, daß sie das Gleichgewicht der rationalen Ordnung der Existenz stört; sie muß auf eine Zurückweisung der Vernunft, auf eine aspernatio rationis hinauslaufen. Dieses letztere Kriterium steht in Zusammenhang mit einer früheren Stelle bei Chrysipp, wo er sich mit dem Menschen beschäftigt, der Argumenten nicht zugänglich ist, weil er seine Nachgiebigkeit gegenüber den Leidenschaften als ein ganz und gar rationales Verhalten ansieht. Das Phänomen rationalen Argumentierens zu dem Zweck, die Flucht aus der noetisch geordneten Existenz zu verteidigen, beeindruckte Chrysipp so stark, daß er annahm, der logos selbst könne korrumpiert werden. Poseidonios konnte nichts anderes tun, als diesen Irrtum zurückzuweisen und zu der Kraft in der menschlichen Existenz zurückzukehren, welche die Leidenschaften als Mittel benutzen kann, aus der noeti-schen Spannung zu fliehen, und gleichzeitig die Vernunft als Mittel, diese Flucht zu rechtfertigen.5 (143f; Fs)

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