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Autor: Cantalamessa, Raniero

Buch: Als neuer Mensch leben

Titel: Als neuer Mensch leben

Stichwort: Scham, Schamgefühl

Kurzinhalt: Die Scham weist schon von sich aus auf das Geheimnis des menschlichen Körpers hin, der mit einer Seele vereint ist; sie zeigt, daß es in unserem Körper etwas gibt, das über ihn hinausgeht, ihn transzendiert. Das erklärt, warum wir dazu neigen ...

Textausschnitt: 296a Ein heute wichtiger Aspekt dieser Berufung zur Reinheit ist - besonders für die Jugendlichen - das Schamgefühl. Die Scham weist schon von sich aus auf das Geheimnis des menschlichen Körpers hin, der mit einer Seele vereint ist; sie zeigt, daß es in unserem Körper etwas gibt, das über ihn hinausgeht, ihn transzendiert. Das erklärt, warum wir dazu neigen, diejenigen Teile unseres Körpers zu bedecken, die stärker die Triebe ansprechen, und statt dessen dem Blick des anderen spontan das Gesicht und die Augen präsentieren, die unmittelbarer unser inneres geistiges Wesen durchscheinen lassen. Die Schamhaftigkeit ist Achtung vor sich selbst und vor den anderen. Wo das Schamgefühl verlorengeht, wird die menschliche Sexualität in verhängnisvoller Weise banalisiert, jeden geistigen Abglanzes beraubt und leicht zu einem Konsumgut degradiert. Die Welt von heute belächelt die Scham und wetteifert darin, ihre Grenzen immer weiter hinauszuschieben. Indem sie auf die fugendlichen regelrecht Gewalt ausübt, bringt sie sie so weit, sich ausgerechnet dessen zu schämen, worauf sie eigentlich stolz sein und was sie eifersüchtig hüten müßten. Dem muß ein Ende gesetzt werden.

Der hl. Petrus empfahl den Frauen der ersten christlichen Gemeinde:

»Was im Herzen verborgen ist, das sei euer unvergänglicher Schmuck: ein sanftes und ruhiges Wesen. Das ist wertvoll in Gottes Augen. So haben sich einst auch die heiligen Frauen geschmückt, die ihre Hoffnung auf Gott setzten« (1 Petr 3,41). (Fs)

297a Es geht nicht darum, jeden äußeren Schmuck des Körpers und jedes Bemühen, die eigene Erscheinung bestmöglich darzustellen und zu verschönern, zu verurteilen, sondern es geht darum, das mit reinen Herzensabsichten zu tun, mehr für die anderen - besonders für den eigenen Verlobten oder für den Ehemann und die Kinder - als für sich selbst; um Freude zu bereiten, nicht um zu verführen. (Fs)

297b Die Scham ist der schönste Schmuck der Reinheit. »Die Welt«, hat jemand geschrieben, »wird durch die Schönheit gerettet werden«. Aber sogleich hat er hinzugefügt: »Es gibt auf der Welt nur ein einziges absolut schönes Wesen, dessen Erscheinung ein Wunder an Schönheit ist: Christus.«1 Die Reinheit ist das, was es der göttlichen Schönheit Christi ermöglicht, sich zu offenbaren und im Gesicht eines christlichen jungen Mannes oder Mädchens aufzuleuchten. Die Schamhamhaftigkeit ist ein glänzendes Zeugnis für die Welt. Über eine der ersten christlichen Märtyrinnen, die junge Perpetua, wird in den Märtyrerakten berichtet, sie sei an eine wilde Kuh gefesselt und von ihr in die Luft geschleudert worden. Als sie blutend zu Boden fiel, »zog sie ihr Kleid zurecht, weil sie die Scham stärker empfand als den Schmerz«.2 Zeugnisse wie dieses trugen dazu bei, die heidnische Welt zu verändern und in ihr die Wertschätzung der Reinheit aufkommen zu lassen. (Fs)

297c Es genügt heute nicht mehr eine Reinheit, die aus Ängsten, Tabus und Verboten besteht, aus gegenseitiger Flucht von Mann und Frau voreinander, so als sei die eine immer und notwendigerweise eine Falle für den anderen, ein möglicher Feind und weniger eine »Hilfe«. In der Vergangenheit war die Reinheit manchmal - zumindest in der Praxis - genau auf diesen Komplex von Tabus, Verboten und Ängsten verengt worden, als sei es die Tugend, die sich vor dem Laster verbergen müsse, und nicht umgekehrt das Laster, das sich vor der Tugend schämen muß. Wir müssen dank der Gegenwart des Heiligen Geistes in uns nach einer Reinheit streben, die stärker ist als ihr entgegengesetztes Laster; nach einer positiven, nicht nur negativen Reinheit, die imstande ist, uns die Wahrheit jenes Wortes erfahren zu lassen: »Für die Reinen ist alles rein!« (Tit 1, 15), und jenes anderen Wortes der Schrift:
»Er, der in euch ist, ist größer als jener, der in der Welt ist« (1 Joh4,4). (Fs)

298a Wir müssen den Anfang machen, indem wir die Wurzel heilen, nämlich das »Herz«, denn von dort kommt alles, was das Leben eines Menschen wirklich vergiftet (vgl. Mt 15, 18f). Jesus sagt:
»Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen« (Mt 5,8). (Fs)

298b Sie werden wirklich schauen, d. h. sie werden neue Augen haben, um die Welt und Gott zu sehen, klare Augen, die wahrzunehmen vermögen, was schön und was häßlich, was Wahrheit und was Lüge, was Leben und was Tod ist. Kurz: Augen wie Jesus. Mit welcher Freiheit konnte Jesus über alles sprechen: über die Kinder, über die Frau, über die Schwangerschaft, über die Geburt... Augen wie Maria. Wir müssen uns in die Schönheit verlieben, aber in die wahre Schönheit, in jene Schönheit, die die Geschöpfe von Gott empfangen haben und die sich dem Blick derer offenbart, die ein reines Herz haben. Dann besteht die Reinheit nicht mehr darin, »Nein« zu sagen zu den Geschöpfen, sondern »Ja«; sie zu bejahen als Geschöpfe Gottes, die »sehr gut« waren und bleiben. Um dieses »Ja« sagen zu können, muß man jedoch zuerst den Weg des Kreuzes gehen, denn seit dem Sündenfall ist unser Blick auf die Schöpfung getrübt. In uns ist die Begierde losgebrochen; die Sexualität ist nicht mehr ruhig und gewaltlos, sie ist zu einer zweideutigen und bedrohlichen Kraft geworden, die uns unserem eigenen Willen zum Trotz mitreißt, gegen das Gesetz Gottes zu handeln. (Fs)



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