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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Stichwort: Realitätserfahrung, immanent, imago Dei u. hominis, Entmenschung, Ewigkeit -> Spiel, Friktion

Kurzinhalt: Stilbruch 1830er, Realitätsakzent auf dem immanenten Sein, Ausfüllung d. Leerstelle mit Symbolen d. 2. Realität, ästhetisches Spiel, Masken d. Transzendenz, Bruchstellen zw. Scheinrealität und Wirklichkeit

Textausschnitt: 12/4 Charakterisieren wir die Periode näher.

Wir bemerken in ihr eine merkwürdige Verlagerung des Akzentes in der Vorstellung von dem, was Realität ist. Die Realität der Vernunft und des Geistes, die sich in den noetischen und pneumatischen Erfahrungen erschließt, verblaßt; und von ihr weg verlagert sich der Akzent auf die Erfahrung von der Welt der Dinge in raum-zeitlicher Existenz. Das hat verschiedenartige Folgen - teils bedenkliche, teils erfreuliche. Bedenkliche in der Periode selbst, insoferne als alle Realität, die nicht die Seinsweise weltimmanent existierender Dinge hat, zu Nicht-Realität absinkt; erfreuliche für uns in der neuen Situation des Philosophierens, insoferne als die energische Beschränkung des Ausdrucks Existenz auf den Seinsmodus weltimmanenter Dinge durchaus in der Richtung exakter Begriffsbildung liegt und daher angenommen werden sollte. Wir gewinnen dadurch die Freiheit, von den Bereichen der Vernunft und des Geistes mit Präzision als von nicht-existenter Realität zu sprechen. Jedenfalls scheint uns diese Ausdrucksweise sachlich klarer als der Versuch Heideggers, den Ausdruck Existenz für das transzendierende Dasein des Menschen in Anspruch zu nehmen und weiter mit dem Problem der Geschichtlichkeit zu verbinden, denn dieser Versuch eines Kompromisses wird weder den innerweltlich existierenden Dingen, noch unseren Erfahrungen von Transzendenz, noch der Geschichte gerecht. (83; Fs)

13/4 Aber bleiben wir bei unserer Periode. In ihr verlagert sich der Realitätsakzent auf immanentes Sein und für diesen Bereich monopolisiert sie die Ausdrücke Wissenschaft und Erfahrung; Erfahrungswissenschaft wird zur Wissenschaft von weltimmanenten Dingen. Was dagegen die nicht-existente Realität von Vernunft und Geist betrifft, so werden die Symbole der Philosophie und der Offenbarung, in denen sich die Erfahrungen von Transzendenz auslegen, undurchsichtig für ihren Erfahrungsgehalt; und die wachsende Undurchsichtigkeit wieder ist bedingt durch Atrophie der Erfahrung im Sinne des Versagens des meditativen Interesses und der Energie zur Artikulierung der nicht-existenten Realitätsbereiche. Es gibt keine lebendige Meditation mehr und die Sprache der Vernunft und des Geistes verdunkelt sich daher zu den berühmten Werturteilen, die von der Position innerweltlicher Existenz gesehen keine Basis in kritischer Erfahrung haben. Die episteme im klassischen Sinne ist tot. (83f; Fs)

14/4 Aber wenn auch das Leben des Geistes zu aufgeklärter Vernunft, zu bürgerlicher Moral und zu liberalen oder nicht-liberalen Weltanschauungen absinkt, und wenn auch die Symbole der Transzendenz schwere Deformationen ihrer Bedeutung erleiden und diskreditiert werden, so ändert sich durch diese Vorgänge nichts an der Seinsordnung selbst. Auch wenn Hegel, Marx und Nietzsche Gott noch so gründlich ermorden und für tot erklären, so bleibt göttliches Sein ewig und der Mensch hat weiter mit seinem Leben fertig zu werden, das im Zeichen der Kreatur und des Todes steht. Wenn konkupiszente Phantasie die Akzente der Realität verlagert, dann überlagert sie die Realität mit einem falschen Bild. Von diesem Phantasiebild sprechen wir als der zweiten Realität. Und wenn der Mensch in dieser zweiten Realität zu leben, wenn er sich aus der imago Dei in eine imago hominis zu verwandeln sucht, dann ergeben sich Konflikte mit der ersten Realität, deren Ordnung weiter besteht. Charakteristisch für die Periode sind daher die Phänomene der Friktion zwischen zweiter und erster Realität - wenn sie auch in ihren Anfängen weiter zurückgehen. Für uns sind vor allem die Friktionen von Interesse, die an der Bruchstelle zum diskreditierten und für nicht-real erklärten Bereich der nicht-existenten Realität der Vernunft und des Geistes auftreten. Ich zähle einige dieser Phänomene auf: (84; Fs)

(1) Da die nicht-existente Realität nicht abgeschafft werden kann, muß die Leerstelle, die im Gefolge ihrer Diskreditierung entsteht, durch Symboliken der zweiten Realität aufgefüllt werden. Unter anderen Phänomenen dienen diesem Bedürfnis die innerweltlichen Apokalypsen der Geschichte, die von Kant, Condorcet, Comte und Marx geschaffen wurden. Da die neuen Geschichtsbilder ihren Ursprung in der innerweltlichen Konkupiszenz des Handelns haben, gehören zu ihnen auch wesentlich der progressive und revolutionäre Aktivismus sowie das revolutionäre Bewußtsein. (84f; Fs)

(2) Mit dem Absinken nicht-existenter Realität zu Nicht-Realität entsteht das Phänomen der Desillusionierung, sowie das Gefühl der Verpflichtung, das Leben ohne Illusionen der Transzendenz zu führen. Die Leugnung des Geistes bringt das Leiden an der Gottverlassenheit hervor. Denken wir an das Leiden Nietzsches, der am Beispiel Pascals erfahren hat, was Glaube heißt, aber sich seiner Disziplin nicht unterwerfen wollte. (85; Fs)

(3) Die Leugnung der nicht-existenten Realität des Transzendierens zu göttlichem Sein zerstört die imago Dei. Der Mensch wird entmenscht. Das Leiden an der Sinnlosigkeit eines gottverlassenen Daseins führt zu Ausbrüchen konkupiszenter Phantasie, zu der Groteske der Schöpfung eines 'neuen Menschen' - des Übermenschen bei Marx und Nietzsche. (85; Fs)

(4) Da Aussagen über das Mysterium des Seinsgrundes nicht mehr als Exegese noetischer und pneumatischer Erfahrung auftreten dürfen, werden sie bei Nietzsche zu Masken des weltimmanenten 'tiefen Geistes'. Die Suche nach dem Sinn des Lebens degeneriert zu ästhetischen Operationen mit Symbolen der Transzendenz, zu einem Spiel mit Masken von unverbindlicher Verbindlichkeit. Über den Fall Nietzsches hinaus wäre im allgemeinen zu sagen: Die innerweltlichen Phänomene von Macht, Kampf, Trieben, Klasse, Nation und Rasse werden mit dem Sinn nicht-existenter Realität beladen und dadurch zu Masken der Transzendenz. Wir bemerken als charakteristisch das Phänomen eines die Transzendenzproblematik aufnehmenden, verzweifelten Ja-sagens zum innerweltlichen Spiel des Lebens, das mit einem Sinn belastet wird, den es in der Tat nicht hat. Nietzsche formuliert diese Belastung in einem brillanten Diktum. Er spricht von dem lebensbejahenden Menschen, 'der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es so wie es war und ist wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stück und zum Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu dem, der gerade dieses Schauspiel nötig hat - und nötig macht: weil er immer wieder sich nötig hat - und nötig macht - Wie? Und dies wäre nicht - circulus vitiosus deus'?' Die göttliche Ewigkeit wird in ein immerwährendes, sich wiederholendes Spiel der Immanenz transponiert. Die Verborgenheit des Grundes wird zur Oberfläche des Spiels und in die Verborgenheit rückt der Mensch, der es spielt. Aber ist er noch Mensch? Denn 'alles was tief ist, liebt die Maske'; und die Gegensätze und Widersprüche der Masken sind 'die rechte Verkleidung für die Scham eines Gottes'. In der Tat: circulus vitiosus deus. Das Spiel der Masken, das der Gott-Mensch Nietzsches spielt, tritt an die Stelle von Platons 'ernstem Spiel' des Lebens. (85f; Fs)

Kommentar (vom 07/12/2008): Gehört zu diesem Spiel nicht auch in einem weiten Sinn das Wittgenstein'sche Spiel dazu und all das Bemühen den Strom des "Neuen" im Fluss zu halten?

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