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Autor: Lotz, Johannes B.

Buch: Transzendentale Erfahrung

Titel: Transzendentale Erfahrung

Stichwort: Enttäuschung, Ent-Täuschung; summum bonum

Kurzinhalt: Befreiung von der Täuschung durch die Ent-Täuschung; 3 Haltungen des Menschen als Antwort auf die Enttäuschung; summum bonum

Textausschnitt: Die Erfahrung der Ent-täuschung:

271/VI Nachdem wir so im Anschluß an Thomas die Fundamente für die Entfaltung der metaphysischen Erfahrung auf dem Weg des Guten gelegt haben, bleiben noch zwei wesentliche Fragen genauer zu beantworten, nämlich erstens ob unser Erstziel überhaupt die unendliche Fülle oder die subsistierende Gutheit ist und zweitens ob wir zu deren ausdrücklichem Erfassen durch das Erfahren oder nur durch das Schlußfolgern vordringen. Die beiden Fragen lassen sich nicht getrennt beantworten; daher werden unsere Überlegungen sie zusammen umfassen. (219f; Fs)

272/VI Hierbei greifen wir zwei Gesichtspunkte heraus, die uns im Durchstehen von mannigfachen Erfahrungen zum höchsten Guten hingeleiten, ja hintreiben. Die für uns aufschlußreichen Erfahrungen akzentuieren entweder die Enttäuschung oder die Freiheit; wir sprechen von 'akzentuieren', weil sich in der Enttäuschung die Freiheit meldet und im Verwirklichen der Freiheit die Enttäuschung mitspielt, also sich dieselbe Erfahrung in zweien ihrer Wesensmomente auslegt. (220; Fs)

273/VI Wörtlich verstanden, besagt das Wort 'Ent-täuschung' die Befreiung von einer Täuschung, in die der Mensch gefallen war und sich verstrickt hatte. Die Täuschung entsteht dadurch, daß ein endliches Gut den Menschen anzieht, mitreißt und überwältigt, weshalb er sich mit seinem Streben danach ausstreckt, es ergreift und sich zu eigen macht, wobei er von dem betreffenden Gut so erfüllt ist, daß er darin ruht, es genießt und meint, seine letzte Sehnsucht werde davon gestillt. Solches widerfährt ihm bei Sachgütern wie dem Besitz oder dem Lebensstandard, wie der Lust sexueller oder ästhetischer Art, wie dem Erfolg oder einer angesehenen und einflußreichen Stellung, aber auch bei Persongütern wie der Kameradschaft, der Freundschaft und der ehelichen Liebe. (220; Fs) (notabene)

274/VI Thomas von Aquin hat in seiner 'Summe wider die Heiden' viele der endlichen Güter besprochen, bei denen der Mensch sich täuscht und in denen er seine endgültige Befriedigung zu finden wähnt1. Ungezählte Menschen bleiben lange Zeit und sozusagen ihr ganzes Leben hindurch in derartigen Täuschungen auf diese oder jene Weise befangen. (220; Fs)

275/VI Von der Täuschung befreit den Menschen die Ent-täuschung. Sie fängt damit an, daß ein endliches Gut, das bisher für ihn alles war, nicht mehr so viel zu bedeuten beginnt, obwohl das der Mensch zunächst nicht wahrhaben will und vor dem aufkeimenden Erwachen gewaltsam in den Schlummer der Betäubung flieht. Im Laufe der Zeit ist das immer weniger möglich und vermag sich der Mensch nicht mehr der Unruhe, die sich in ihm regt, zu verschließen. Er spürt in steigendem Maße, wie das betreffende Gut ihm nicht die Erfüllung bietet, die er von ihm erwartete, wodurch er ihm gegenüber ernüchtert wird; so sieht er Grenzen und Mängel dort, wo ihn früher nur strahlende Vollendung blendete. (220; Fs)

276/VI Die zunehmende Ernüchterung rückt das in seiner wahren, aber geringeren Bedeutung gesehene Gut allmählich an die Stelle, die ihm gebührt; oft kommt es auch dazu, daß ein solches Gut nach dem Dahinschwinden seiner überhöhten Einschätzung als schal, ja nichtssagend empfunden und schließlich mit Überdruß beiseite geschoben wird; nicht selten wird ein früher über alles geliebter Freund oder Partner mit Haß aus dem eigenen Leben verbannt. Auf diese Weise gewinnt der Mensch seine Freiheit, die durch die Täuschung gebunden war, durch die Ent-täuschung wieder zurück; die Verschlossenheit, in die er geraten war, wird in eine neue Offenheit higein überwunden. (220f; Fs)
277/VI Über eine Schein-Erfüllung hinausgewachsen, greift der wieder offene Mensch nach der wahren Erfüllung aus. Dabei verirrt er sich meist in eine weitere Täuschung hinein; denn er hat zunächst nur erfahren, daß ihn dieses bestimmte endliche Gut nicht zu erfüllen vermochte, weshalb er sich einbildet, seine Enttäuschung habe in diesen oder jenen Eigenschaften des betreffenden Gutes ihren Grund, während ihm noch nicht aufgegangen ist, daß der Grund in der Endlichkeit zu suchen ist. Daher wendet er sich mit denselben oder wenigstens ähnlichen Illusionen wie vorher einem andem endlichen Gut zu, von dem er wieder alles erwartet, wenn er auch nüchterner und reifer als früher geworden ist. (221; Fs)

278/VI Naturgemäß stellt sich nach einer mehr oder weniger ausgedehnten Spanne der Täuschung von neuem die unvermeidliche Ent-täuschung ein, die alle Hoffnungen vereitelt und alles Aufgebaute zertrümmert. Dieser schmerzliche Vorgang kann sich viele Male im Leben wiederholen und wiederholt sich auch, tatsächlich, wodurch dieses zu einer Kette von Enttäuschungen wird, die eine harte und unerbittliche Schule darstellen. (221; Fs)
279/VI Wie wir ständig beobachten, bilden sich durch diese Erfahrungen drei grundsätzlich verschiedene Haltungen in den Menschen heraus. Die einen werden durch die Kette von Enttäuschungen in die Verzweifung gestürzt, die ihnen jede Hoffnung auf Erfüllung raubt; sie meinen, die Erfahrung habe sie eindringlich gelehrt, daß das Leben eine einzige große Enttäuschung und nichts außerdem sei. Solchen hegt die Versuchung nahe, das Leben, das ihnen scheinbar nichts zu bieten hat, wegzuwerfen und daher Selbstmord zu begehen. - (221; Fs)

280/VI Andere werden durch die Kette der Enttäuschungen veranlaßt, ihre Ansprüche an das Leben in einer müden oder auch bis zu einem gewissen Grade weisen Resignation zu beschränken, indem sie auf die scheinbar unmögliche Ganz-Erfüllung verzichten und aus den verbleibenden Teil-Erfüllungen das Beste zu machen versuchen. Dabei kann ein Fanatismus durchbrechen, der alles daransetzt, um die verfügbaren Teil-Erfüllungen so zu steigern, daß sie sich möglichst der Ganz-Erfüllung nähern. Hierher gehört das irdische Paradies der klassenlosen Gesellschaft, eine Utopie, die sich als Ganz-Erfüllung anbietet und jede darüber hinausgreifende Sehnsucht nach der wahren Ganz-Erfüllung gegenstandslos und zunichte zu machen oder als Illusion abzutun bestrebt ist. (221; Fs)
281/VI Wieder anderen leuchtet allmählich eine Einsicht auf, die auch in den anderen eben besprochenen Gruppen unterschwellig dämmert, sich aber nicht durchzusetzen vermag. Sie spüren nämlich, wie sie weder in der Verzweiflung noch in der Resignation zur Ruhe kommen oder ihr Innerstes sie zuletzt unwiderstehlich darüberhinausdrängt. Ihnen geht auf, daß die Kette der Enttäuschungen nicht aus der besonderen Eigenart dieses oder jenes endlichen Guten entspringt, sondern in der allen derartigen Gütern gemeinsamen Endlichkeit ihre Wurzel hat. (222; Fs)

282/VI Solange der Mensch in solchen Gütern seine letzte Erfüllung sucht, wird ihn das letzte, auf das er trifft, genauso enttäuschen wie das erste, das ihn faszinierte, wird er von den im irdischen Paradies gesammelten endlichen Gütern ebenso leer gelassen wie von wenigen oder nur einem. Die Bedingung der Möglichkeit für die Enttäuschung am Endlichen als solchem kann einzig darin liegen, daß das Streben des Menschen zuinnerst über alles Endliche hinausgreift und durch den Ausgriff auf das schlechthin unendliche Gut konstituiert ist; dieses heißt das höchste Gut (summum bonum), das alles Gute in sich vereinigt und über das hinaus weiteres Gute nicht zu finden ist, in dem alles Streben die letzte Erfüllung findet und über das hinaus nichts mehr zu erstreben bleibt, in dem das Streben völlig zur Ruhe kommt oder in die Seligkeit, das vollendete Glück eintritt (beatitudo, felicitas). (222; Fs)

283/VI Ohne das Ausgreifen nach dem unendlichen Gut wäre der Mensch von den endlichen Gütern nicht enttäuscht, weil er in ihnen ja seine Erfüllung fände. Im Laufe des Lebens tritt das Streben nach dem unendlichen Gut immer deutlicher hervor oder setzt es sich durch all die Enttäuschungen immer eindeutiger von sämtlichen endlichen Gütem ab. Dasselbe Streben erweist sich als die innerste bewegende Kraft des gesamten menschlichen Strebens, weshalb dieses sich um des unendlichen Gutes willen den endlichen Gütem zuwendet oder mittels der Teil-Erfüllungen als vorbereitenden Stufen sich der Gesamt-Erfüllung entgegenspannt. Indem so der Mensch seine letzte Erfüllung nicht mehr in den endlichen Gütem, sondern durch diese im unendlichen Gut sucht, werden jene auf dieses hin transparent und bieten sie eine Hilfe auf dem Weg zu diesem, wodurch sich zugleich ein reifes Verhältnis zu jenen herausbildet. (222; Fs)

284/VI Das Erfahren der Enttäuschungen hat sich zum Erfahren des Strebens nach dem unendlichen Gut entwickelt, worin wiederum das Erfahren des unendlichen Gutes selbst geschieht. Das Fortschreiten innerhalb dieses Erfahrens vollzieht sich nicht in theoretischen Darlegungen, sondern in den praktischen Erfahrungen, die der Mensch mit seinem Streben und dessen Einmünden in die Ruhe der Erfüllung macht, und ist deshalb selbst Erfahrung. Zu deren genauerer Bestimmung trägt das Besprechen einiger Einwände bei, die dagegen erhoben werden können und tatsächlich erhoben werden. (222f; Fs)

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