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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Stichwort: Dialektik, Eristik, Platon, Hegel, Magie,

Kurzinhalt: apeiron (Tiefe) - nous (Höhe), Freud, Jung, Archetyp, Unbewusste, Hegel: Umwandlung der Spannung in Immanenz, egophanischen Revolte, Merleau-Ponty, eristische Phantasie, Revision

Textausschnitt: 58/6 An der eben zitierten Stelle des Philebos hat Platon die theoretischen Implikationen des Problems verdeutlicht, indem er analytische Begriffe schuf, die noch heute in Gebrauch oder vielmehr Mißbrauch sind. Der Mensch existiert in der Spannung zwischen apeirontischer Tiefe und noetischer Höhe. Das apeiron und der nous reichen bis in seine psyche und er hat Anteil an ihnen, aber er ist weder mit dem einen noch mit dem anderen identisch, und er verfügt auch nicht über sie. Dieser Bereich der metaleptischen Realität ist die eigentliche Domäne des menschlichen Denkens, seines Suchens, Lernens und Lehrens (skopein, manthanein, didaskein). Sich innerhalb des metaxy zu bewegen, es nach allen Richtungen zu erforschen, für sich selbst die Orientierung zu finden aus der Perspektive, die dem Menschen durch seine Stellung in der Realität gegeben ist, das ist die eigentliche Aufgabe des Philosophen. (152f; Fs)
59/6 Um diese Bewegung des Denkens oder der Erörterung (logos) innerhalb des metaxy zu bezeichnen, verwendet Platon den Ausdruck 'Dialektik' (17 a). Da das menschliche Bewußtsein sich aber auch bewußt ist, an den Polen der metaleptischen Spannung teilzuhaben (d, h. am apeiron und am nous) und das Begehren nach Wissen dazu neigt, uber die Grenzen partizipatorischen Wissens hinauszukommen, wird es Denker geben - 'diejenigen, die bei den Menschen unserer Zeit als weise angesehen werden' - die dazu neigen, sich die 'Inmitten'-Realität (ta mesa) entkommen zu lassen (ekpheugein) in ihrem libidinösen Drang nach kognitiver Herrschaft über das hen oder das apeiron. Zur Bezeichnung dieses Typs spekulativen Denkens benutzt Platon den Ausdruck 'Eristik' (17 a). (153; Fs)
60/6 Auch hier haben die radikalen Bewußtseinsdeformationen der Moderne wesentlich dazu beigetragen, Platons Problemstellung zu verstehen, indem sie Anschauungsunterricht in Eristik lieferten. In Symbolen wie dem Marxschen Sein, das das Bewußtsein determiniert, oder in dem Freudschen Symbol der Libido, das den erklärten Zweck hat, die Autorität des Acheron gegen die Autorität der Vernunft zu mobilisieren1, werden Phänomene im metaxy, von wirtschaftlicher oder psychologischer Natur, vorschnell mit der apeirontischen Tiefe identifiziert. Als Symbol dieser Revolte erscheint ferner das Unbewußte in so verschiedenartigen Zusammenhängen wie Freuds Psychoanalyse, Bretons Surrealismus oder Jungs Psychologie eines kollektiven Unbewußten, in der Symbole, die vom Menschen erfunden wurden, um seine Erfahrungen im metaxy auszudrücken, in apeirontische Archetypen verwandelt werden. (153f; Fs)
61/6 Am instruktivsten jedoch ist Hegel. Denn als kenntnisreicher und gewissenhafter Denker führt er sich verpflichtet, seine Deformation der noetischen Erfahrung der klassischen Philosophen mit entsprechenden Belegstellen zu untermauern. Es gibt eine Stelle in der aristotelischen Metaphysik, die man mißverstehen kann, wenn man sie um jeden Preis mißverstehen will, weil sie von der überschwänglichen Freude durchdrungen ist, für einen Augenblick mit göttlicher Unsterblichkeit in Berührung zu kommen, wenn im Akt kognitiver Partizipation der göttliche nous berührt wird (oder erfaßt wird, thigganein). Hegel fügt diese Passage (Met. 1072b 18-31) als Appendix seiner Enzyklopadie an und weist durch diese strategische Plazierung auf die zentrale Bedeutung hin, die sie für ihn hat. (154; Fs)
62/6 Der entscheidende Satz in der Passage ist folgender: 'Denken (nous) denkt sich selbst durch Partizipieren (metalepsis) am Gegenstand des Denkens (noeton). Denn Gegenstand des Denkens wird es dadurch, daß es berührt und gedacht wird (thinganon, noon), so daß Denken (nous) und Gedachtes (noeton) dasselbe sind' (Met. 1072b 20 ff.). Im aristotelischen Kontext artikuliert dieser Satz das dynamische Verhältnis zwischen Identität und Verschiedenheit des Erkennenden und des Erkannten im Akt der noetischen Partizipation, ungeachtet der Freude momentaner Identität mit dem Göttlichen. Liest man jedoch diesen Satz im Kontext der Enzyklopadie, so drückt er den Beginn eines philosophischen Unternehmens aus, das durch Hegel zu seinem erfolgreichen Abschluß gebracht worden ist. Denn in der Konzeption Hegels beginnt die Philosophie als 'Liebe zur Weisheit' im klassischen Sinn und bewegt sich von diesem unvollkommenen Zustand auf ihre Erfüllung hin im Hegelschen System als 'wirklichem Wissen'. Von der klassischen Teilhabe am göttlichen nous schreitet sie durch den dialektischen Fortschritt des 'Geistes' in der Geschichte voran zur Identifizierung mit dem nous im Bewußtsein, das sich selbst reflektiert. Die Spannung zum Grund der eigenen Existenz, von Hegel als ein Zustand der 'Zerissenheit' oder 'Entfremdung' betrachtet, soll durch einen Zustand der 'Versöhnung' ersetzt werden, wenn der göttliche Grund in der Welt fleischgeworden ist durch die Konstruktion des Hegelschen Systems. Das metaxy ist in Immanenz umgewandelt worden. Diese spekulative Magie ('Zauberworte', 'Zauberkraft'), durch die der Denker den göttlichen Grund in seinen Besitz bringt, ist das, was Platon 'Eristik' genannt hat. Hegel seinerseits nennt es 'Dialektik'. Auf diese Weise ist die Bedeutung der Ausdrücke in ihr Gegenteil verkehrt worden. (154f; Fs)
63/6 Darüberhinaus führt Hegel als erstrangiger Denker mit den paulinischen Symbolen des göttlichen pneuma und der 'Tiefe Gottes' (1 Kor. 2:6-13) die gleichen Kunststucke auf wie mit dem nous des Aristoteles. Wieder rückt er seine Umkehrung in eine strategische Position: Auf der letzten Seite der Phänomenologie zieht er das göttliche pneuma in das metaxy, indem er sein System als die erschöpfende Offenbarung der Tiefe darstellt, die von Christus und Paulus zwar intendiert, aber nur teilweise erreicht worden war. (155; Fs)
64/6 In einem Aufwasch uberträgt er die Autorität sowohl der Vernunft wie der Offenbarung auf sein System und auf sich als seinen Schöpfer. Die libidinöse Stoßkraft, die in dieser egophanischen Revolte gegen die theophanische Realität steckt, wird manifest in seiner Überzeugung, daß die Konstruktion des Systems durch ihn das Äquivalent des Nichtkombattanten für den Tod des Kombattanten auf dem Schlachtfeld der Revolution darstellt. Und aus seinen Kommentaren zu Napoleon geht er gar als der Große Mann der Weltgeschichte hervor, der der franzosischen Revolution den Sinn gegeben hat, der von dem Empereur verfehlt wurde. (155; Fs)
65/6 Der imperiale Stil, von Hegel zur Perfektion entwickelt, ist ganz allgemein charakteristisch für die egophanische Revolute der Neuzeit gegen die Vernunft in ihren verschiedenen ideologischen Arten und Unterarten. Uber die individuellen Falle existentieller Unordnung hinaus wird dieser Stil eine gesellschaftliche Groteske, wenn sich im Lauf der Zeit die gesellschaftliche Bühne mit kleinen Empereurs füllt, von denen jeder den Anspruch erhebt, im Besitz der einen und einzigen Wahrheit zu sein. Und dieser Stil wird mörderisch, wenn einige von ihnen sich selbst ernst genug nehmen, den Massenmord all derer zu betreiben, die es wagen, anderer Meinung zu sein. (155f; Fs)
66/6 Als instruktives Beispiel, an dem man den Übergang von intellektuellem Imperialismus zur Befürwortung des Massenmordes in alien wohlüberlegten Details studieren kann, empfehle im Maurice Merleau-Ponty's Humanisme et Terreur (1947). Man muß annehmen, daß die allgemeine gesellschaftliche Situation im ganzen eher dazu beitragt, diesen Stil auszubreiten als ihn wieder in Vergessenheit geraten zu lassen. Diese Entwicklung in Richtung auf ein ebenso groteskes wie mörderisches Massenphänomen ist dadurch bestimmt, daß sie ihren Ursprung in der Zerstörung des Lebens der Vernunft im metaxy hat. Am Fall Hegels - und man sollte nicht vergessen, daß nur ein sachlich kompetenter Denker von der Statur Hegels ein solches Meisterstuck vollbringen konnte - kann man beobachten, wie das Bewußtsein des Menschen von seiner Spannung zum göttlichen Grund durch die 'Zauberworte' des Systems in einen 'dialektischen' Prozeß innerhalb eines imaginären 'Bewußtseins' verwandelt wird, das unter die Kontrolle des spekulativen Denkers gebracht werden kann. Da aber 'dialektisches Bewußtsein' nicht das Bewußtsein konkreter Menschen ist, sondern ein symbolischer Ausdruck, der in der Realität den Status der eristischen Phantasie einer libidinös gestörten psyche hat, besitzt das System nicht die Autorität der Vernunft, die es zu usurpieren versucht. (156; Fs)
67/6 Sobald der göttliche nous menschlicher Konstruktion unterworfen wird, ist Gott tatsachlich tot. Was stattdessen ins Leben getreten ist, ist der imperiale Appeal, den das System auf die libido dominandi ausübt. Dieser Appeal ist nicht mit irgendeinem speziellen System verknüpft (etwa dem Hegels oder Comte's), sondern mit der Form des Systems als solcher und ihrer außerordentlichen Flexibilität. Denn die Vernunft kann sich in eristischer Weise mit jedem beliebigen Weltinhalt verbinden, sei es Klasse, Rasse oder Nation; sei es eine Mittelklasse, Arbeiterklasse, Technokratenklasse oder gleich die ganze Dritte Welt; oder Leidenschaften wie Gewinnsucht, Macht und Sex; oder Wissenschaften wie Physik, Biologie, Soziologie, Psychologie. Die Liste erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Man kann sogar sagen, daß die Anziehungskraft eines speziellen Systems weniger in den Lehren seines Schöpfers liegt als in der Möglichkeit, an ihnen unter dem Titel 'Revision' herumzubasteln, wahrend der imperiale Stil absoluter Wahrheit aufrechterhalten wird. (156f; Fs)
68/6 Im Ablauf dieser libidinösen Groteske läßt sich jedoch eine gewisse Ordnung feststellen. Sie wird sichtbar, wenn die eristische Phantasie dem Druck der Realität ausgesetzt wird. Da der Sinn von Existenz in noetischer Spannung im Prozeß des Unsterblich-Werdens besteht, wird der sterblich-machende Druck der apeirontischen Tiefe in wachsendem Maße spürbar, wenn der nous durch die eristische Verbindung erfolgreich deformiert worden ist. Deshalb kann man in der Deutung der Existenz, die man modern nennt, eine Akzentverschiebung feststellen von der überschwänglichen aspernatio rationis im Namen der Vernunft, die dem 18. Jahrhundert seinen Namen gegeben hat, hin zu der zeitgenossischen Beschäftigung mit Existenz unter den Stichworten von abgründiger Tiefe, Tod und Angst. (157; Fs)
69/6 Da ferner die eristische Phantasie die Vernunft mit einem bestimmten Weltinhalt verbindet, wird die Wahrheit des Systems fragwurdig, wenn das Wissen von dem Weltinhalt über den Zustand hinaus fortschreitet, in dem der eristische Denker es in seine Konstruktion eingebaut hat. Daher entwickeln alle epigonischen Anhänger eines Systems die wohlbekannte Vielfalt von Kunstgriffen, die das jeweilige System gegen den unvermeintlichen Konflikt mit der Realität abschirmen sollen. Da gibt es den eben erwahnten Kunstgriff der 'Revision', der oft benutzt wird, um die Glaubwürdigkeit des Systems zu erhalten, obwohl er andrerseits auch zu Meinungsverschiedenheiten unter den Anhängern fuhren kann und zu zornigen Neudefinitionen orthodoxer und abweichlerischer Positionen. (157f; Fs)
70/6 Dann gibt es das grundsatzliche Tabu auf Fragen, die die Voraussetzungen der eristischen Verschmelzung betreffen, wie es von Marx ausdrücklich gefordert und von den Anhängern der Marxschen Spielart der Eristik befolgt wird. Dann die altehrwurdige Taktik, von vernichtender Kritik einfach keine Kenntnis zu nehmen, und das weniger ehrwürdige Verfahren, den Kritiker personlich zu diffamieren. Und wo schließlich die Anhänger eines Systems die Regierungsgewalt errungen haben, können sie dem Druck der Realität Widerstand leisten, indem sie die Andersdenkenden einsperren oder töten, oder indem sie kurzerhand eine physische Mauer um das Territorium ziehen, das unter ihrer Herrschaft steht. (158; Fs)
71/6 All dies mag sich wie eine Selbstverständlichkeit anhören, und ist es auch, soweit es die Fakten betrifft. Nicht so selbstverständlich ist wahrscheinlich, daß ich soeben mit dem Vokabular der klassischen Einsichten in die Spannung der Existenz den gesellschaftlichen Prozeß einer geistigen Krankheit in ihrem geschichtlichen Ablauf beschrieben habe, eine kinesis im thukydideischen Sinn. Sowohl hinsichtlich ihrer Natur als ihres Verlaufs kann man die moderne kinesis verstehen, wenn man die Kategorien benutzt, die von den klassischen Philosophen bei der Analyse des metaxy entwickelt worden sind. Und umgekehrt wird die Gültigkeit der klassischen Analyse durch die Phänomene bestätigt, die man empirisch als Phänomene des Konflikts zwischen einer eristischen Phantasie und der noetischen Struktur der Realität beobachten kann. (158; Fs)

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