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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Stichwort: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 3); noetische Erfahrung; Symbolfelder (Unruhe, Staunen, Verwirrung, Nichtwissen, Wissen, thaumazein, helkein, periagoge, agnoia, agnoein, amathia); differenzierte Existenzerfahrung

Kurzinhalt: Die Unruhe in der Seele eines Menschen kann so durchsichtig für sich selbst sein, daß sie sich versteht als verursacht durch Unwissenheit hinsichtlich des Grundes und des Sinns von Existenz ...

Textausschnitt: 17/6 Und doch ist das epochale Ereignis der Differenzierung eingetreten, und die Philosophen haben den in sich kohärenten Komplex von Sprachsymbolen geschaffen, mit denen sie die einzelnen Stationen ihrer Analyse bezeichnen. Da ist an erster Stelle die Gruppe von Symbolen, welche die Erfahrung der Unruhe und Verwunderung ausdrücken: Sich-wundern - thaumazein; suchen, forschen - zetein; Untersuchung - zetesis; zweifelndes Fragen - aporein, diaporein. Ferner ist das zweifelnde Fragen in der Erfahrung mit dem Anzeichen der Dringlichkeit verbunden. Es ist nicht ein Spiel, das man spielt oder auch nicht. Der Philosoph fühlt sich durch eine unbekannte Kraft bewegt (kinein), die Fragen zu stellen, er fühlt sich in die Suche hineingezogen (helkein). Manchmal zeigt der verwendete Ausdruck ein drängendes Begehren als Moment des zweifelnden Fragens an, wie bei dem aristotelischen tou eidenai oregontai. Und manchmal ist der Zwang, die Frage zu stellen, großartig ausgestaltet, wie in Platons Höhlengleichnis, wo der Gefangene durch die unbekannte Kraft bewegt wird, sich herumzudrehen (periagoge) und den Aufstieg zum Licht zu beginnen. (133f; Fs; tblStw: Ordnung)

18/6 Nicht immer jedoch muß die unbekannte Kraft erst die Fesseln der Gleichgültigkeit sprengen. Die Unruhe in der Seele eines Menschen kann so durchsichtig für sich selbst sein, daß sie sich versteht als verursacht durch Unwissenheit hinsichtlich des Grundes und des Sinns von Existenz, so daß der Mensch ein aktives Begehren verspürt, diesem Zustand von Unwissenheit zu entkommen (pheugein ten agnoian, Met. 982b 21) und zum Wissen zu gelangen. Aristoteles drückt es kurz und bündig so aus: 'Ein Mensch in Verwirrung (aporon) oder Verwunderung (thaumazon) ist sich bewußt, in Unwissenheit zu sein (oietai agnoein).' (Met. 982b 18) Die Analyse erfordert also weitere Sprachsymbole: Nichtwissen - agnoia, agnoein, amathia; Flucht vor dem Nichtwissen - pheugein ten agnoian; sich herumdrehen - periagoge; Wissen - episteme, eidenai. (134; Fs)

19/6 Der bis jetzt artikulierte Teil der Erfahrung liefert den Unterbau für die noetischen Einsichten im eigentlichen Sinn. Ich habe ihn mit einiger Sorgfalt dargestellt, da er weniger bekannt ist, als er es sein sollte. Platon und Aristoteles waren so erfolgreich in der Exegese ihrer Erfahrungen, daß die nachklassische Entwicklung der Philosophie an die darüberliegende Schicht der noetischen 'Resultate' anknüpfen konnte, während die differenzierte Existenzerfahrung, die das Symbol 'Philosophie' hervorgebracht hatte, in das Halbdunkel des beinahe Vergessenen verdrängt wurde. Gegenüber dieser Vernachlässigung muß ich betonen, daß dieser Unterbau das katalytische Moment war, das die Beschäftigung der Vorsokratiker mit noetischen Problemen erst deutlich als ein Unternehmen in den Blick brachte, das sich mit der Ordnung der psyche durch ihre Spannung zum göttlichen Grund, dem aition aller Wirklichkeit, befaßte. Auf Grund dieser katalytischen Funktion ist diese Schicht der Erfahrung der Schlüssel zum Verständnis des nous im klassischen Sinn. (134f; Fs)

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