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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Stichwort: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 2); Spannung d. Existenz (Grund, Staunen); nous als Struktur d. psyche (Seele); zoon politikon, politikon: Erfahrungsrealität; Kompaktheit u. Differenzierung (Homer - Aristoteles)

Kurzinhalt: ... zoon noetikon ... als eine zusammenfassende Kurzformel einer Analyse bezüglich der Realität von Ordnung in der psyche des Menschen... Wenn der Mensch sich als existent erfährt, entdeckt er seine spezifische menschliche Natur als die des Fragers ...

Textausschnitt: I. Die Spannung der Existenz

10/6 In ihren Akten des Widerstands gegenüber der Unordnung der Zeit erfuhren und erforschten Sokrates, Platon und Aristoteles die Bewegungen einer Kraft, die der psyche des Menschen Struktur verlieh und sie befähigte, der Unordnung Widerstand zu leisten. Dieser Kraft, ihren Bewegungen und der sich daraus ergebenden Struktur gaben sie die Bezeichnung nous. Im Hinblick auf die ordnende Struktur seiner Natur charakterisierte Aristoteles den Menschen als das zoon noun echon, das Lebewesen, das nous besitzt. Diese Formulierung fand Anklang. Durch die lateinische Übersetzung des zoon noetikon als animal rationale ist der Mensch das vernünftige Lebewesen geworden und Vernunft zur Natur des Menschen. Auf der topischen Ebene philosophischer Sprache entwickelte sich diese Charakterisierung zu einer Art von Nominaldefinition. (130f; Fs)

11/6 Der Philosoph war jedoch nicht an Nominaldefinitionen interessiert, sondern an der Analyse der Realität. Die Charakterisierung des Menschen als des zoon noun echon, oder zoon noetikon, war nicht mehr als eine zusammenfassende Kurzformel einer Analyse bezüglich der Realität von Ordnung in der psyche des Menschen. Wenn die Analyse sich nicht mit der persönlichen Ordnung des Menschen befaßte, sondern mit der Ordnung seiner Existenz in der Gesellschaft, kam sie zu der zusammenfassenden Charakterisierung des Menschen als des zoon politikon. Und wenn die Analyse der menschlichen Existenz in geschichtlicher Realität, der 'Geschichtlichkeit' des Menschen, wie man dies heute nennt, von den klassischen Philosophen weiter geführt worden wäre, als es tatsächlich geschah, wären sie vielleicht zu der formelhaften Charakterisierung des Menschen als des zoon historikon gekommen. Alle drei Charakterisierungen sind richtig, insofern sie eine gültige Analyse der Erfahrungsrealität auf eine kurze Formel bringen, jede einzelne jedoch würde falsch, wenn sie die beiden anderen ausschlösse und beanspruchte, die einzige und die einzig gültige Definition der Natur des Menschen zu sein. (131; Fs)

12/6 Der Mensch ist ferner nicht eine körperlose Seele, die durch Vernunft geordnet wird. Durch seinen Körper partizipiert er an der organischen Wirklichkeit, sowohl an der der Tiere wie der Pflanzen, ebenso wie an dem Bereich der Materie. Und in seiner psyche erfährt er nicht nur die noetische Bewegung in Richtung auf Ordnung, sondern auch die Zugkraft der Leidenschaften. Außer seiner spezifischen Natur, der Vernunft, in ihren Dimensionen persönlicher, gesellschaftlicher und geschichtlicher Existenz, hat der Mensch das, was Aristoteles seine 'synthetische' Natur nennt. Von spezifischer und synthetischer Natur zusammen können wir als der 'integralen' Natur des Menschen sprechen. Diese integrale Natur, die sowohl die noetische psyche mit ihren drei Ordnungsdimensionen umfaßt als auch die Teilhabe des Menschen an der Hierarchie des Seins vom nous bis hinab zur Materie, ist nach Auffassung des Aristoteles der Gegenstand der philosophischen Untersuchung peri ta anthropina, der Untersuchung der Dinge, die sich auf die Natur des Menschen beziehen. (131f; Fs)

13/6 Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, wenn wir uns dieses umfassenden Feldes der menschlichen Realität bewußt sind als des Feldes, in dem Vernunft ihren Ort hat und die Funktion eines Ordnungszentrums erfüllt, von dem aus die Existenz geistig durchsichtig wird. Ich beginne nun mit der Untersuchung der klassischen Erfahrung und Symbolisierung dieser ordnenden Kraft in der psyche des Menschen. (132; Fs)

14/6 Die Realität, die von den Philosophen als spezifisch menschlich erfahren wird, ist die Existenz des Menschen in einem Zustand von Unruhe. Der Mensch ist nicht ein von ihm selbst geschaffenes, autonomes Wesen, das den Ursprung und Sinn seiner Existenz in sich selbst trüge. Er ist nicht eine göttliche causa sui. Vielmehr bricht aus der Erfahrung seines Lebens in unsicherer Existenz zwischen den Grenzen von Geburt und Tod die verwunderte Frage nach dem letzten Grund auf, der aitia oder prote arche, dem letzten Grund jeglicher Realität und besonders seiner eigenen. Die Frage ist der Erfahrung, aus der sie aufsteigt, inhärent. Das zoon noun echon, das sich selbst als ein lebendiges Wesen erfährt, ist sich gleichzeitig des fragwürdigen Charakters bewußt, der mit seinem Status verbunden ist. Wenn der Mensch sich als existent erfährt, entdeckt er seine spezifische menschliche Natur als die des Fragers nach dem Woher und Wohin, nach dem Grund und dem Sinn seiner Existenz. (132; Fs; tblStw: Ordnung)

15/6 Obwohl dieses Fragen der Selbsterfahrung des Menschen zu allen Zeiten inhärent ist, stellt, wie ich betont habe, die adäquate Artikulierung und Symbolisierung des fragenden Bewußtseins als des Konstituens der menschlichen Natur die epochale Leistung der Philosophen dar. Man kann in der Tat in den platonisch-aristotelischen Formulierungen noch die Erschütterung des Übergangs von den kompakten zu den differenzierten Modi des Bewußtseins erkennen. Bei Platon sind wir der Entdeckung noch näher. Der Sokrates des Theaitet erkennt in der Erfahrung (pathos) des Sich-Wunderns (thaumazein) das Merkmal des Philosophen. 'Philosophie hat in der Tat keinen anderen Ursprung.' (155d) (132f; Fs)

16/6 Eine Generation später, als die Wucht des ersten Eindrucks abgeklungen war, konnte Aristoteles seine Metaphysik mit der programmatischen Feststellung beginnen: 'Alle Menschen haben von Natur aus das Bestreben oregontai) zu wissen (eidenai).' Alle Menschen - nicht nur die Philosophen! Das Unternehmen der Philosophen ist für die Menschheit repräsentativ geworden. Jedermanns Existenz ist durch das thaumazein potentiell beunruhigt, aber einige drücken ihre Verwunderung in dem kompakteren Medium des Mythos aus, andere durch die Philosophie. Neben dem philosophos steht deshalb die Gestalt des philomythos, und 'der philomythos ist in gewissem Sinn ein philosophos.' (Met, 982b 18 ff.) Wenn Homer und Hesiod den Ursprung der Götter und aller Dinge bis zu Uranos, Gaia und Okeanos zurückverfolgen, drücken sie sich im Medium der theogonischen Spekulation aus, doch sind sie auf derselben Suche nach dem Grund wie Aristoteles selbst (Met. 983b 28 ff.). Die Stellung auf der Skala von Kompaktheit und Differenzierung berührt nicht die grundsätzliche Gleichheit der Struktur in der Natur des Menschen. (133; Fs)

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