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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Titel: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte

Stichwort: Vernunft (Erfahrung d. klassischen Philosophie 1); Entdeckung der Vernunft als Ordnungskraft und -kriterium (psyche, Seele); Symbole: Philosoph, spoudaios, daimonios aner, amathes, thnetos

Kurzinhalt: Vernunft ... ihre Differenzierung und Artikulierung durch Sprachsymbole ist ein geschichtliches Ereignis. Der Genius der hellenischen Philosophen entdeckte Vernunft als die Quelle von Ordnung in der psyche des Menschen

Textausschnitt: Vernunft: Die Erfahrung der klassischen Philosophen

1/6 "Vernunft ist zu allen Zeiten das, was die menschliche Natur1 konstituiert, aber ihre Differenzierung und Artikulierung durch Sprachsymbole ist ein geschichtliches Ereignis. Der Genius der hellenischen Philosophen entdeckte Vernunft als die Quelle von Ordnung in der psyche2 des Menschen. Deshalb beschäftigt sich diese Untersuchung mit Vernunft im Sinn des platonisch-aristotelischen nous, mit den näheren Umständen und Folgen ihrer Differenzierung als eines Ereignisses in der geschichtlichen Entwicklung existentieller Ordnung. (127; Fs; tblStw: Ordnung)

2/6 Ich werde mich dabei nicht mit dem 'Begriff' oder einer nominalistischen 'Definition' von Vernunft befassen, sondern mit dem Prozeß in der Realität, in dem konkrete Menschen, die 'Liebhaber der Weisheit', die Philosophen, wie sie sich selbst nannten, sich in einem Akt des Widerstands gegen die persönliche und soziale Unordnung ihrer Zeit engagierten. Aus diesem Akt tauchte der nous auf als eine Kraft kognitiver Helligkeit, welche die Philosophen zum Widerstand veranlaßte und sie gleichzeitig befähigte, die Erscheinungen der Unordnung als solche zu erkennen im Licht einer menschlichen Natur, die durch den nous geordnet ist. Vernunft im noetischen Sinn wurde also entdeckt sowohl als Ordnungskraft wie als Ordnungskriterium. (127; Fs)

3/6 Als die Vernunft so zu klarem Bewußtsein ihrer selbst aufstieg, wurden sich die Philosophen gleichzeitig bewußt, daß dieses Ereignis einen epochalen Einschnitt darstellt, der eine Sinnrichtung3 in der Geschichte konstituierte. Sobald die Natur des Menschen für ihre Ordnung durchsichtig geworden war, konnte man von der Ebene, die durch diesen sinnkonstituierenden Erkenntnisschritt erreicht war, nicht mehr zu weniger differenzierten Formen der Erfahrung und ihrer Symbolisierung zurückkehren. Die Entdeckung der Vernunft teilte die Geschichte in ein Vor- und Nachher. (127f; Fs)

4/6 Dieses Epochenbewußtsein kam in der Bildung von Symbolen zum Ausdruck, welche die neue Struktur im Feld der Geschichte charakterisieren sollten. Das zentrale Symbol war dabei der 'Philosoph', in dessen psyche die menschliche Natur für ihre noetische Ordnung durchsichtig geworden war. Parallelsymbole waren Platons 'geistiger Mensch' (daimonios aner) und Aristoteles' 'reifer Mensch' (spoudaios). Der Mensch, der auf einem weniger differenzierten Bewußtseinsstand zurückblieb, war weiterhin der 'Sterbliche' (thnetos) der homerischen Sprache. Der Mensch schließlich, der sich aus Mangel an Empfänglichkeit diesem Erkenntnisschritt versperrte, sank zum 'törichten' oder 'stumpfsinnigen' Menschen ab, zum amathes. (128; Fs)

5/6 In der aristotelischen Metaphysik sind 'Mythos' und 'Philosophie' die Bezeichnungen für die beiden symbolischen Formen, durch die in historischem Nacheinander das kompakte kosmologische und das differenzierte noetische Bewußtsein ihre jeweiligen Realitätserfahrungen zum Ausdruck brachten. Und hinsichtlich desselben epochalen Schritts entwickelte Platon in den Nomoi eine triadische Symbolik für den geschichtlichen Prozeß, in dem das Zeitalter des Kronos und das des Zeus nun durch das Zeitalter des Dritten Gottes - des nous - abgelöst wurde. (128; Fs)

6/6 Obwohl sich also die klassischen Philosophen der epochalen Bedeutung dieses Schrittes bewußt waren, vermieden sie die Entgleisung in apokalyptische Erwartungen eines kommenden Endreiches. Sowohl Platon wie Aristoteles bewahrten die Balance ihres Bewußtseins. Zwar erkannten sie in dem noetischen Ausbruch das unwiderrufliche Ereignis in der Geschichte, das es wirklich war. Doch sie wußten auch, daß die Vernunft das Konstituens der menschlichen Natur schon gewesen war, noch bevor die Philosophen die Struktur der psyche differenzierten, und ihre Präsenz im Menschen es nicht verhindert hatte, daß die Ordnung der Gesellschaft in die Unordnung verfiel, zu der sie nun in Opposition standen. Es wäre unsinnig gewesen anzunehmen, die Differenzierung der Vernunft würde dem Aufstieg und Niedergang von Gesellschaften ein Ende bereiten. Sie erwarteten nicht, Hellas werde sich nun zu der Art von Föderation paradigmatischer Poleis entwickeln, wie Platon sie für wünschenswert hielt. Im Gegenteil, Platon sah vorher, und Aristoteles erlebte es als Augenzeuge, daß die Polis einer Gesellschaft vom neuen Typ des ökumenischen Reiches unterlag. (128f; Fs)

7/6 Die klassischen Philosophen hielten so das Feld der Geschichte offen für gesellschaftliche Prozesse in einer Zukunft, die man nicht vorhersehen konnte, ebenso wie für die Möglichkeit einer weiteren Differenzierung des Bewußtseins. Besonders Platon war sich sehr wohl bewußt, daß der Mensch in seiner Spannung zum Grund der Existenz offen war in Richtung auf eine Tiefe der göttlichen Realität noch über das Stratum hinaus, das sich als nous enthüllt hatte. Als Philosoph ließ er das Bewußtsein für zukünftige Theophanien offen, ebenso für die pneumatischen Offenbarungen vom jüdisch-christlichen Typ wie für die späteren Differenzierungen in Gestalt von Mystik und Toleranz in dogmatischen Fragen. (129; Fs)

8/6 Es sollte klar geworden sein, daß Vernunft im noetischen Sinn der Geschichte nicht ein apokalyptisches Ende setzt, weder jetzt noch in einer progressivistischen Zukunft. Sie durchdringt vielmehr die Geschichte, die sie erst konstituiert, mit einer neuen Durchsichtigkeit der existentiellen Ordnung, in kritischer Auseinandersetzung mit den Leidenschaften, die diese Ordnung stören. Ihr modus operandi ist nicht Umsturz, Gewalttat oder Zwang, sondern Überzeugung, die peitho, die im Mittelpunkt von Platons philosophischer Existenz steht. Diese kann die Leidenschaften nicht beseitigen, aber sie kann der Vernunft Gehör verschaffen, so daß das noetische Bewußtsein eine überzeugende Ordnungskraft wird durch das helle Licht, das von ihm auf die Erscheinungen persönlicher und gesellschaftlicher Unordnung fällt. Es ist die epochale Leistung der klassischen Philosophen, daß sie die Spannung von existentieller Ordnung und Unordnung zur Durchsichtigkeit des noetischen Dialogs und Diskurses erhoben haben. Diese Epoche hat für das Leben der Vernunft in der Westlichen Kultur den Grund gelegt bis herauf in unsere eigene Zeit. Sie gehört deshalb nicht der Vergangenheit an, sondern ist die Epoche, in der wir immer noch leben. (129f; Fs)

9/6 Die Entdeckung der Vernunft als das epochale Ereignis in der geschichtlichen Entwicklung existentieller Ordnung kann in einem Aufsatz nicht erschöpfend dargestellt werden. Ich muß daher eine Auswahl treffen. Da unsere eigene Situation als Philosophen im 20. Jahrhundert der platonisch-aristotelischen Situation im 4. Jahrhundert v. Chr. sehr ähnlich ist, und da wir uns heute in derselben Art von kritischer Auseinandersetzung mit der Unordnung der Zeit befinden, empfiehlt es sich, daß ich mich auf die Entdeckung der Vernunft als der ordnenden Kraft in der menschlichen Existenz konzentriere. (130; Fs)

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