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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis; Immanentisierung; Leugnung d. Realität, 3 Beispiele: More (superbia ), Hobbes (summum bonum), Hegel (Mysterium); summum malum, libido dominandi; Pneumopathologie

Kurzinhalt: In allen gnostischen Bewegungen geht es darum, die Seinsverfassung mit ihrem Ursprung in göttlich-transzendentem Sein aufzuheben und sie durch eine weltimmanente Seinsordnung zu ersetzen, deren Vollendung in den Machtbereich menschlichen Handelns ...

Textausschnitt: V (eü: Immanentisierung; Auslassung von Realität)

117a Die zwei Komplexe, die hier kurz umrissen wurden, erschöpfen keineswegs die Symbolsprache der Massenbewegungen. Um annähernde Vollständigkeit zu erreichen, müßten die auf den lateinischen Averroismus und Nominalismus des Mittelalters zurückgehenden hinzugefügt werden. Aber die von der christlichen Vollendungsidee und der joachitischen Spekulation sich herleitenden sind zweifellos die beherrschenden, denen die anderen sich einfügen; und unter den beiden gebührt wieder der Immanentisierung der christlichen Vollendungsidee der Vorrang. (Fs)
117b Diese Rangordnung ist ontologisch bestimmt durch die zentrale Stellung des Problems der Immanentisierung: In allen gnostischen Bewegungen geht es darum, die Seinsverfassung mit ihrem Ursprung in göttlich-transzendentem Sein aufzuheben und sie durch eine weltimmanente Seinsordnung zu ersetzen, deren Vollendung in den Machtbereich menschlichen Handelns gegeben ist. Es geht darum, die Struktur der Welt, die als unzulänglich empfunden wird, so abzuändern, daß eine neue, befriedigende Welt entsteht. Die Varianten der Immanentisierung also sind die rangmäßig beherrschenden Symbole, denen die anderen Komplexe sich als sekundäre Ausdrucksmöglichkeiten des Immanentisierungswillens unterordnen. (Fs) (notabene)

117c Gleichgültig welcher der drei Varianten der Immanentisierung die Bewegungen angehören, der Versuch, eine neue Welt zu schaffen, ist ihnen allen gemeinsam. Der Versuch kann sinnvoll nur dann unternommen werden, wenn die Seinsverfassung in der Tat vom Menschen geändert werden kann. Nun steht jedoch die Welt, so wie sie uns vorgegeben ist, nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen, und ihre Struktur kann nicht geändert werden. Um das Unternehmen zwar nicht möglich zu machen, es aber doch als möglich erscheinen zu lassen, muß daher jeder gnostische Intellektuelle, der ein Programm der Weltänderung entwirft, vor allem ein Weltbild konstruieren, aus dem die wesentlichen Züge der Seinsverfassung, die das Programm als aussichtslos und unsinnig erscheinen lassen würden, weggelöscht worden sind. Mit dieser Eigentümlichkeit der gnostischen Weltbilder wollen wir uns abschließend befassen. An drei repräsentativen Fällen soll gezeigt werden, welcher Realitätsfaktor ausgelassen wird, um die Möglichkeit der Änderung des unbefriedigenden Zustandes wahrscheinlich zu machen. Als die drei Fälle wählen wir die Utopie des Thomas More, den Leviathan des Hobbes und die Geschichtskonstruktion Hegels. (Fs) (notabene)

118a More entwirft in seiner Utopie das Bild eines Menschen und eines Gesellschaftszustandes, die er für vollkommen hält. Zur Vollkommenheit gehört die Abschaffung des Privateigentums. Nun ist er sich aber, da er eine ausgezeichnete theologische Bildung genossen hat, sehr wohl bewußt, daß der vollendete Zustand in der Welt nicht herbeigeführt werden kann, weil die Begierde des Menschen nach Besitz ihre tiefe Wurzel in der Erbsünde, in der superbia im augustinischen Sinne, hat. An der entscheidenden Stelle seines Werkes, wenn More das vollendete Bild überblickt, muß er daher zugeben, daß alles das möglich wäre, wenn es nur 'die Schlange der superbia' nicht gäbe. Nun gibt es aber die Schlange der superbia - und More denkt nicht daran, es zu bestreiten. Es erhebt sich daher die Frage, in welch eigentümlich psychopathischem Zustand ein Mann wie More sich befunden haben muß, als er ein Bild der vollkommenen Gesellschaft in der Geschichte zeichnete, im vollen Bewußtsein, daß dieser Zustand wegen der Erbsünde niemals erreicht werden konnte. (Fs)

118b Es eröffnet sich das Problem der besonderen, krankhaften Geisteskonstitution gnostischer Denker, für das wir noch keine adäquate Terminologie in unserer Zeit durchgebildet haben. Es empfiehlt sich daher, um von diesem Phänomen sprechen zu können, den Ausdruck 'Pneumopathologie', den Schelling für diesen Zweck geprägt hat, zu gebrauchen. In einem Fall wie dem Mores sprechen wir daher von dem pneumopathischen Zustand eines Denkers, der in seiner Revolte gegen die Welt, so wie sie von Gott geschaffen worden ist, willkürlich einen Realitätsfaktor ausläßt, um das Phantasiebild einer neuen Welt zu schaffen. (Fs)

118c Wie More aus dem Menschenbild die superbia wegläßt, um aus diesem neuen, vom Intellektuellen von der Erbsünde befreiten Menschen die utopische Ordnung zu schaffen, so läßt Hobbes einen anderen Wesensfaktor aus, um die Konstruktion seines Leviathan durchführen zu können. Der Faktor, den Hobbes wegläßt, ist das summum bonum, das höchste Gut. Zunächst der Tatbestand: Hobbes weiß, daß das Handeln des Menschen nur dann als rational zu verstehen ist, wenn es über alle Zwischenstufen der Zweck-Mittel-Relation hinaus auf ein letztes Ziel, eben das summum bonum, hin orientiert ist. Er weiß ferner, daß das summum bonum die Grundbedingung der rationalen Ethik bei den klassischen ebenso wie bei den scholastischen Denkern gewesen ist. Und er stellt daher ausdrücklich in der Einleitung zum Leviathan fest, daß er in seiner Konstruktion der Gesellschaft das summum bonum der 'alten Denker' wegzulassen gedenke. Wenn es aber kein summum bonum gibt, dann fehlt der letzte, Rationalität verleihende Orientierungspunkt menschlichen Handelns. Das Handeln kann dann nur noch vorgestellt werden als durch die Leidenschaften motiviert, vor allem durch die Leidenschaft der Aggression, des Überwindens des Nebenmenschen. Der 'natürliche' Gesellschaftszustand muß als der Krieg aller gegen alle verstanden werden, wenn die Menschen nicht in freier Liebe ihr Handeln auf das höchste Gut hin orientieren. Aus dem krieghaften, durch die Leidenschaften bedingten Naturzustand können die Menschen nur dadurch wieder herausfinden, daß eine Leidenschaft, die stärker ist als alle anderen, ihren Angriffs- und Überwindungswillen bändigt und sie zur Friedensordnung bewegt. Diese Leidenschaft ist für Hobbes die Furcht vor dem summum malum, die Furcht vor dem Tode, dem jeder im Naturzustand von der Hand des anderen ausgesetzt ist. Wenn die Menschen sich nicht durch die gemeinsame Liebe zum göttlichen höchsten Gut zu friedlichem Zusammenleben bewegen lassen, dann müssen sie durch die Furcht vor dem summum malum des Todes zur Ordnung in Gesellschaft gezwungen werden. (118f; Fs)

119a Die Motive diese merkwürdigen Konstruktion lassen sich bei Hobbes etwas deutlicher erkennen als bei More. Der Autor des Leviathans hatte sein Menschen- und Gesellschaftsbild unter dem Eindruck der puritanischen Revolution geformt. Am Fall der puritanischen Sektierer hatte er auf dem Grund der Bemühungen um die Herstellung des Gottesreiches die libido dominandi des Revolutionärs diagnostiziert, der die Menschen seinem Willen beugen will. Der 'Geist', von dem er die bewaffneten Propheten der neuen Welt beseelt sah, war nicht der Geist Gottes, sondern die Herrschsucht des Menschen. Diese im Fall der Puritaner durchaus richtige Beobachtung hat er verallgemeinert und die libido dominandi, die der Abfall des Menschen von seinem Wesen und von Gott ist, zum Wesensmerkmal des Menschen gemacht. Jede Bewegung des Geistes wurde für ihn zum Prätext für eine Bewegung der Leidenschaften. Eine Orientierung des menschlichen Handelns durch Liebe zu Gott gab es überhaupt nicht, sondern nur die Motivierung durch den weltimmanenten Machtwillen. Und diese 'Stolzen', die herrschen wollten und ihren Machtwillen als den Willen Gottes ausgaben, mußten gebrochen werden durch den Leviathan, den 'Herrscher über die Stolzen', der sie mit seiner Todesdrohung in Schach hielt und zur Friedensordnung der Gesellschaft zwang. Der Erfolg dieser Annahmen war für Hobbes der gleiche wie für More. Wenn die Menschen nicht imstande sind, ihre Beziehungen zueinander in Freiheit durch Liebe zum summum bonum zu ordnen, wenn die Gesellschaft im Bürgerkrieg in der Tat in den Zustand eines Krieges aller gegen alle verfällt und wenn dieser Zustand als der 'Naturzustand' des Menschen verstanden wird, aus dem es keinen Ausweg gibt, dann ist die Stunde des Denkers gekommen, der das Rezept für die Wiederherstellung der Ordnung und die Sicherung des ewigen Friedens besitzt. Die Gesellschaft, die weder in der Hand Gottes steht noch sich selbst in der Hand hat, wird in die Hand des gnostischen Denkers gegeben. Die libido dominandi, die Hobbes bei den Puritanern diagnostizierte, feiert ihren höchsten Triumph in der Konstruktion des Systems, das dem Menschen die Freiheit und Fähigkeit, sein Leben in Gesellschaft selbst zu ordnen, abspricht. Durch die Konstruktion des Systems wird der Denker zum einzig Freien, zum Gott, der die Erlösung vom Übel des 'Naturzustandes' bringt. Diese Funktion des Systems wird bei Hobbes deutlicher als bei More, weil Hobbes sein Werk einem 'Souverän' empfiehlt, der es lesen, beherzigen und danach handeln möge. More konstruierte zwar seine Utopie, aber das Spiel des Humanisten, so gefährlich es war, blieb für ihn doch Spiel, denn er blieb sich bewußt, daß die vollkommene Gesellschaft 'nirgendwo' war und je sein würde. Hobbes nimmt seine eigene Konstruktion bitter ernst und empfiehlt sie einem Machthaber, der die Scheinfreiheit des Geistes und seiner Ordnung unterdrücken soll, weil nach der Ansicht von Hobbes der Mensch die wirkliche nicht hat. (120f; Fs)

121a Der dritte Fall, den wir zu betrachten haben, ist die Geschichtsphilosophie Hegels. Stellen wir vor allem fest, daß der Ausdruck Geschichtsphilosophie auf die Hegelsche Spekulation nur mit Vorbehalt angewendet werden darf. Denn die Geschichte, die Hegel konstruiert hat, ist nicht in der Realität zu finden, und die Realität der Geschichte ist nicht in Hegels Konstruktion eingegangen. Die Harmonie zwischen Geschichte und Konstruktion konnte auch in diesem Falle nur durch die Auslassung eines wesentlichen Realitätsfaktors hergestellt werden. (Fs)

121b Der Realitätsfaktor, den Hegel ausschaltet, ist das Mysterium einer Geschichte, die in die Zukunft weiterläuft, ohne daß wir ihr Ende kennen. Die Geschichte als Ganzes ist wesensmäßig nicht ein Gegenstand der Erkenntnis, der Sinn des Ganzen ist nicht erkennbar. Hegel kann nun einen sinnhaft abgeschlossenen Prozeß der Geschichte konstruieren, weil er annimmt, daß die Offenbarung Gottes in der Geschichte voll durchschaubar sei. Die Erscheinung Christi war für ihn der Angelpunkt der Weltgeschichte; in dieser entscheidenden Epoche hatte Gott den Logos, die Vernunft, in der Geschichte offenbar gemacht. Aber die Offenbarung war unvollständig; und Hegel sah es als die Aufgabe des Menschen an, die unvollständig gebliebene Offenbarung zu vervollständigen, dadurch daß er den Logos zu vollständiger Klarheit ins Bewußtsein hebt. Die Hebung ins Bewußtsein sei in der Tat möglich durch den Geist des Philosophen, im konkreten Fall durch den Geist Hegels: im Medium der Hegelschen Dialektik kommt die Offenbarung Gottes in der Geschichte zu ihrer Vollendung. Die Gültigkeit der Konstruktion beruht also darauf, daß das Mysterium der Offenbarung und des Ganges der Geschichte aufgelöst und zur vollen Durchsichtigkeit durch die dialektische Entfaltung des Logos gebracht werden kann. Es handelt sich um eine Konstruktion, die nahe mit der des Joachim von Flora verwandt ist. Auch Joachim war mit der augustinischen Erwartung des Endes nicht zufrieden, auch er wollte einen verstehbaren Sinn hier und jetzt in der Geschichte haben, und um den Sinn verstehbar zu machen, mußte er sich selbst als den Propheten einsetzen, dem dieser Sinn durchsichtig war. In gleicher Weise identifiziert Hegel seinen menschlichen Logos mit dem Logos, der Christus ist, um den sinnhaften Prozeß in der Geschichte völlig durchschaubar zu machen. (121f; Fs)

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