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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis: 6 Merkmale: 1. Unzufriedenheit 2. schlechte Welt 3. Erlösung vom Übel möglich 4. Änderung der Seinsordnung 5. im Handlungsraum des Menschen 6. Gnosis: Rezept zur Veränderung

Kurzinhalt: Mit diesem fünften Punkt erreichen wir das gnostische Merkmal im engeren Sinne, mit dem Glauben, daß eine Änderung der Seinsordnung, die Erlösungscharakter hat, im menschlichen Handlungsbereich liege, daß sie dem Menschen durch sein eigenes Handeln ...

Textausschnitt: II (eü: 6 Merkmale der Gnosis)

107a Wir haben den Gegenstand der Untersuchung auf der Common-sense-Ebene sichergestellt und müssen uns jetzt weiter darüber klarwerden, inwiefern die aufgezählten Bewegungen als gnostische zu charakterisieren sind. (107; Fs)

107b Wieder seien nicht Definitionen, sondern nur Hinweise auf die historischen Exemplare gegeben. Die Gnosis war eine religiöse Bewegung des Altertums. Sie wird etwa gleichzeitig mit dem Christentum feststellbar - so gleichzeitig in der Tat, daß man lange annahm, es handle sich bei der Gnosis um nicht mehr als um eine christliche Häresie. Diese Ansicht ist heute nicht mehr zu halten. Zwar gibt es keine gnostischen Quellen, die nachweislich vor Christus zu datieren wären, aber die gnostischen Einflüsse und das gnostische Vokabular sind schon bei Paulus so deutlich zu erkennen, daß sie aus einer vor ihm existierenden, kraftvollen Bewegung stammen müssen. Über die geschichtliche Kontinuität der Gnosis vom Altertum bis in die Neuzeit sei hier nur gesagt, daß die Entwicklung der Sekten gnostischen Charakters vom östlichen Mittelmeer des Altertums über die hochmittelalterlichen Bewegungen bis zu denen der westlichen Renaissance und Reformation in ihrem Zusammenhang hinreichend geklärt ist, um von einer Kontinuität sprechen zu dürfen. Wichtiger als die Definitions- und Genesisfragen sind für unseren Zweck die Merkmale, an denen wir gnostische Bewegungen als solche erkennen können. Es seien darum sechs Charakteristika aufgezählt, die in ihrer Gesamtheit das Wesen gnostischer Haltung umschreiben: (107; Fs)

1. Vor allem ist festzustellen, daß der Gnostiker mit seiner Situation unzufrieden ist. Das wäre an sich nicht besonders zu verwundern. Wir alle haben Grund, in diesem oder jenem Punkt mit der Situation, in der wir uns finden, nicht ganz zufrieden zu sein. (107f; Fs)
108a

2. Nicht ganz so selbstverständlich ist das zweite Merkmal der gnostischen Haltung: der Glaube, daß die Übelstände der Situation darauf zurückzuführen seien, daß die Welt wesensmäßig schlecht organisiert ist. Denn es wäre ja auch die andere Annahme möglich, daß die Seinsordnung, so wie sie uns Menschen vorgegeben ist (wo immer ihr Ursprung zu suchen ist), gut sei und daß wir Menschen unzulänglich sind. Wenn in der Situation etwas nicht so ist, wie es sein sollte, dann ist der Grund in der Schlechtigkeit der Welt zu suchen. (108; Fs) (notabene)

3. Das dritte Charakteristikum ist der Glaube, daß Erlösung vom Übel der Welt möglich sei.

4. Als viertes Merkmal folgt der Glaube, daß die Seinsordnung in einem historischen Prozeß geändert werden müsse. Aus der schlechten Welt muß historisch eine gute Welt werden. Die Annahme ist nicht ganz selbstverständlich, denn als Alternative wäre die christliche Antwort zu erwägen, daß die Welt in der Geschichte so bleibt, wie sie ist, und daß die erlösende Vollendung des Menschen durch Gnade im Tod erfolgt. (108; Fs) (notabene)

5. Mit diesem fünften Punkt erreichen wir das gnostische Merkmal im engeren Sinne, mit dem Glauben, daß eine Änderung der Seinsordnung, die Erlösungscharakter hat, im menschlichen Handlungsbereich liege, daß sie dem Menschen durch sein eigenes Handeln möglich sei. (108; Fs) (notabene)

6. Wenn es aber möglich ist, die uns vorgegebene Seinsordnung in ihrer Struktur so zu verändern, daß wir mit ihr als einer vollendeten zufrieden sein können, dann wird es zur Aufgabe des Gnostikers, das Rezept der Änderung zu erforschen. Das Wissen, die Gnosis, von der Methode der Änderung des Seins ist sein eigentliches Anliegen. Als sechstes Merkmal der gnostischen Haltung erkennen wir daher die Konstruktion der Rezepte zur Selbst- und Welterlösung sowie die Bereitwilligkeit des Gnostikers, als Prophet aufzutreten, der sein Erlösungswissen der Menschheit verkündet. (108; Fs)

109a Das wären also die sechs Merkmale, die das Wesen der gnostischen Haltung umschreiben. In der einen oder anderen Abwandlung finden wir sie in jeder der angeführten Bewegungen. (109; Fs)

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