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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gottesmord; Aphorismus (Nietzsche): der tolle Mensch; Gottesmord -> Menschenmord;

Kurzinhalt: Der hintergründige Sinn der Diogenes-Symbolik wird sichtbar. Der neue Diogenes sucht Gott - aber nicht den Gott, der tot ist, sondern den neuen Gott in den Menschen, die den alten ermordet haben - er sucht den Übermenschen.

Textausschnitt: 96b Der Gottesmord bei den parusitischen Gnostikern ist ein bekanntes und gut durchgearbeitetes Phänomen. Aber manches, das unter den Titeln 'Dialektik des Bewußtseins', 'Standpunkt der Immanenz', 'Wille zur reinen Diesseitigkeit' usw. wohl verstanden ist, hört sich anders an mit der Golemlegende im Ohr. Wieder ist, in diesem Zusammenhang, nur eine exemplarische Analyse möglich; als doxisches Material möge ein Aphorismus von Nietzsche dienen, der berühmte Aphorismus 125 aus der Fröhlichen Wissenschaft. Er führt den Titel: 'Der tolle Mensch'.1 Nietzsche hat den Aphorismus sorgfältig konstruiert, um die geistige Bewegung des Gottesmordes darzustellen. Ich gehe die Phasen der Bewegung durch. (Fs)

96c Der 'tolle Mensch' läuft am hellen Vormittag mit der Laterne auf den Markt und schreit: 'Ich suche Gott! Ich suche Gott!' Nietzsche beginnt mit einer Wandlung der Diogenes-Symbolik: der Philosoph, der den Menschen sucht, ist der tolle Mensch geworden, der Gott sucht. Der Sinn der Wandlung ist nicht unmittelbar klar. Der philosophische Sucher mag auf dem Markt wohl Menschen finden; aber ist der Markt der Ort, an dem Gott zu finden ist? Wenn wir annehmen, daß Nietzsche sinnvoll konstruiert hat, müssen wir fragen, ob der tolle Mensch denn wirklich Gott suche; und wir werden aufmerksam auf den hintergründigen Sinn der Symbolwandlung, der sich in der weiteren Bewegung des Aphorismus enthüllt. (Fs)

96d Auf dem Markt findet der Sucher, was man eben auf dem Markt findet: Menschen. Aber sie sind eine besondere Art, diese Menschen, 'welche nicht an Gott glaubten'. Sie begegnen seiner Suche mit Lachen und Spott: 'Ist er denn verloren gegangen', fragen sie, 'oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert?' (Fs)

97a Den Ungläubigen ruft der tolle Mensch zu: 'Wohin ist Gott? ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder.' Und wie war eine solche Tat möglich? 'Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? [...] Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen! [...] Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?' Aber die Tat ist getan. Der Gottesmord ist nicht rückgängig zu machen: 'Gott ist tot! Gott bleibt tot!' (Fs)

97b Mit diesem Ausruf geht die Bewegung des Aphorismus über die Golemlegende hinaus. Der Gottesmord ist als solcher verstanden -aber der Mörder steht zu seiner Tat. Die neue Kreatur, die den Mord vollzogen hat, erkennt in dem Akt nicht ihren eigenen Tod. Der Golem lebt. 'Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet.' Der Golem steht da, mit dem Messer in der Hand, zu weiteren Taten bereit. (Fs)

97c Und was sucht er mit dem Messer? Den Gott, der schon verblutet ist? Nein - er sucht 'Trost': 'Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? [...] Mit welchem Wasser können wir uns reinigen? [...] Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns?' Nietzsche wiederholt die Situation des Fragens in der Golemlegende - aber die Weisung des Golem, den magischen Gottesmord wieder rückgängig zu machen, ist schon abgelehnt. Der 'tolle Mensch' geht nicht rückwärts, sondern vorwärts: Wenn die Tat zu groß ist für den Menschen, muß der Mensch sich über sich selbst erheben zur Größe der Tat. 'Müssen wir nicht seiher zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!' Wer Gott mordet, wird selbst zum Gott - die Warnung der Gleichnisrede in der zweiten Golemlegende. (Fs)

97d Die Gleichnisrede ist Warnung (und wird von den Adepten der Legende als solche verstanden), weil der Mensch nicht Gott werden kann. Wenn er es versucht, im Akt der Selbstvergötzung, dann wird er zum Dämon in Verschlossenheit gegen Gott. Nietzsche aber will eben diesen Weg weitergehen. Als der 'tolle Mensch' seine Rede beendet hat, schweigen seine Zuhörer, die Ungläubigen, und blicken ihn befremdet an. Da wirft er seine Laterne zu Boden und spricht: 'Ich komme zu früh, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert [...] Taten brauchen Zeit auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen noch immer ferner als die fernsten Gestirne - und doch haben sie diesselbe getan!' (97f; Fs)

98a Der hintergründige Sinn der Diogenes-Symbolik wird sichtbar. Der neue Diogenes sucht Gott - aber nicht den Gott, der tot ist, sondern den neuen Gott in den Menschen, die den alten ermordet haben - er sucht den Übermenschen. Der 'tolle Mensch' sucht also den Menschen - aber nicht den Menschen des Philosophen, sondern das Wesen, das der Magie des Gottesmordes entspringt. Diese Symbolik mußten wir klarstellen. Denn in den gewissenhaften Bemühungen um die 'philosophischen' Intentionen Nietzsches wird allzu oft vergessen, daß der Interpret eines magischen opus nicht auf die Magie hereinfallen darf - um es deutlich zu sagen. Es genügt nicht, das Übermenschensymbol auf Grund der Texte zu untersuchen und seinen Sinn festzustellen, wie er von Nietzsche, d.h. im Kontext der Magie, intendiert war: es muß auch festgestellt werden, was in der Seinsordnung wirklich vorgeht, wenn Magie getrieben wird. Ein Ding kann seine Natur nicht verändern; wer versucht, seine Natur zu 'ändern', zerstört das Ding. Der Mensch kann sich nicht zum Übermenschen wandeln; der Versuch, den Übermenschen zu schaffen, ist der Versuch, den Menschen zu ermorden. Auf den Gottesmord folgt im geschichtlichen Prozeß nicht der Übermensch, sondern der Menschenmord - auf das deicidium der gnostischen Theoretiker das homicidium der revolutionären Praktiker. (Fs)

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