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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gottesmord (spekulativ rückwirkend): wesensnotwendig zur gnostischen Neuschöpfung der Seinsordnung; Nietzsche (Zarathustra)

Kurzinhalt: ... die Übernahme des Seins in die Verfügungsgewalt des Menschen wieder erfordert, daß der transzendente Ursprung des Seins ausgelöscht wird - sie erfordert die Dekapitation des Seins, den Gottesmord... Der Gottesmord wird spekulativ begangen durch ...

Textausschnitt: DER GOTTESMORD

91a Die Analyse der parusitischen Doxa ging von den Marxischen Texten aus, die das Frageverbot betreffen. Die Stellen wurden der Untersuchung zugrunde gelegt, weil sie in seltener Konzentration die Motive, die Symbole und die Denkformen der gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit sichtbar werden lassen. Es dürfte schwer sein, ein zweites Dokument der modernen Gnosis zu finden, das an Kraft und Durchsichtigkeit der Sprache, an intellektueller Energie und genialer Entschlossenheit dem Manuskript des jungen Marx vergleichbar wäre. Die Wahl hat jedoch den Nachteil, daß eines der großen Motive der Spekulation nicht mit der Deutlichkeit hervortritt, die seiner tatsächlichen Stärke angemessen ist. Ich spreche von dem Motiv des Gottesmordes. (Fs)

91b In der parusitischen Gnosis geht es darum, die als unvollkommen und ungerecht erfahrene Seinsordnung zu zerstören und durch eine vollkommene und gerechte Ordnung aus menschlicher Schöpferkraft zu ersetzen. Wie immer nun die Seinsordnung ausgelegt wird - als eine von kosmisch-göttlichen Kräften durchwaltete Welt in den Zivilisationen des Nahen und Fernen Ostens; oder als die Schöpfung eines welt-transzendenten Gottes in der jüdisch-christlichen Symbolik; oder als eine wesenhafte Ordnung des Seins in der philosophischen Kontemplation -, so ist sie dem Menschen vorgegeben und liegt nicht in seiner Verfügungsgewalt. Der Versuch, eine neue Welt zu schaffen, setzt also, wenn er sinnvoll unternommen werden soll, voraus, daß der Charakter der Seinsordnung als vorgegebener ausgelöscht, daß sie als wesensmäßig in der Verfügungsgewalt des Menschen stehend ausgelegt wird. Und die Übernahme des Seins in die Verfügungsgewalt des Menschen wieder erfordert, daß der transzendente Ursprung des Seins ausgelöscht wird - sie erfordert die Dekapitation des Seins, den Gottesmord. (91f; Fs)

92a Der Gottesmord wird spekulativ begangen durch die Auslegung göttlichen Seins als Menschenwerk. Lassen wir Nietzsches Zarathustra zu der Frage sprechen: 'Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk und -Wahnsinn, gleich allen Göttern!'1 Die Schöpfung von Göttern solle der Mensch unterlassen, weil er dadurch seinem Wollen und Handeln sinnwidrige Schranken setze; und die Götter, die er schon geschaffen hat, solle er zum Bewußtsein bringen als von ihm geschaffene. 'Dies bedeute euch Wille zur Wahrheit, daß Alles verwandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, Menschen-Fühlbares.' Die Forderung erstreckt sich auch auf die Welt, die vordem als Gott-geschaffene verstanden wurde: 'Was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber werden!'2 'Gott ist eine Mutmaßung' - aber die Mutmaßungen des Menschen sollten nicht weiter reichen als sein schaffender Wille,3 und sie sollten sich begrenzen 'in der Denkbarkeit'. Es dürfe kein Sein und kein Seinsbild geben, das Wollen und Denken des Menschen als endlich erscheinen lasse. 'Weder ins Unbegreifliche dürftet ihr eingeboren sein, noch ins Unvernünftige.' Um als unbeschränkter Herrscher des Seins zu erscheinen, muß der Mensch das Sein so einschätzen, daß die Schranken nicht mehr sichtbar sind. Und warum muß dieses Zauberspiel aufgeführt werden? Die Antwort: 'Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter.'4 (Fs)

92b Es genügt also nicht, die alte Gotteswelt durch eine neue Menschenwelt zu ersetzen: schon die Gotteswelt muß Menschenwelt gewesen sein und Gott ein Menschenwerk, das auch wieder zerstört werden kann, wenn es den Menschen hindert, der Herr der Seins-Ordnung zu sein. Der Gottesmord muß spekulativ rückwirkend gemacht werden. Darum ist in der Marxischen Gnosis der Kardinalpunkt das 'Durchsichselbstsein' des Menschen; und seine spekulative Stütze findet er in der Auslegung der Natur und Geschichte als des Prozesses, in dem der Mensch sich selbst zu seiner vollen Statur schafft. Der Gottesmord gehört wesensnotwendig zur gnostischen Neuschöpfung der Seinsordnung. (92f; Fs)

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