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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Hegel, Phänomenologie von 1807 (von der Philosophie zur Gnosis); Philosophie: Hegel vs. Platon (Phaidros); Sein als Konstruktion; Vernunft, Weltgeist = göttlicher Geist

Kurzinhalt: 'Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, - dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu ...

Textausschnitt: 4 (eü: Hegel)

82a "Wie steht es nun mit der neuen 'Philosophie'? Wie hängt sie mit der prometheischen Revolte zusammen? und wie mit dem Frageverbot? Marx hat seine Idee von Wissenschaft und Philosophie an Hegel gebildet. Wenden wir uns an den größten der spekulativen Gnostiker um die Antwort auf diese Fragen. (Fs)

82b Hegel gibt die Antwort in einer grundsätzlichen Erklärung, in der 'Vorrede' zur Phänomenologie von 1807: 'Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, - dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein, - ist es, was ich mir vorgesetzt.'1 In der angeführten Stelle sind die Ausdrücke 'Liebe zum Wissen' und 'wirkliches Wissen' von Hegel selbst unterstrichen. Übersetzen wir sie zurück ins Griechische, in 'Philosophie' und 'Gnosis', dann haben wir das Programm vor uns, von der Philosophie zur Gnosis vorzuschreiten. In der programmatischen Form Hegels sind die Verkehrungen der Symbole Wissenschaft und Philosophie impliziert. (Fs) (notabene)

82c Unter Philosophie versteht Hegel ein Unternehmen des Denkens, das dem wirklichen Wissen näherkommen und es schließlich erreichen kann. Das Philosophieren wird der Idee des Fortschritts im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts unterstellt. Erinnern wir uns, gegenüber dieser Fortschrittsidee der Philosophie, der Bemühungen Platons um die Klärung ihres Wesens. Im Phädros läßt er Sokrates die Züge des wahren Denkers zeichnen. Als Phädros dann fragt, wie man einen solchen Mann nennen solle, antwortet Sokrates in der Nachfolge Heraklits, daß der Titel sophos, der Wissende, zu hoch gegriffen sei - dieses Attribut komme Gott allein zu -, aber man dürfe ihn wohl philosophos nennen.2 Das 'wirkliche Wissen' ist also Gott vorbehalten; der endliche Mensch kann nur der Liebende des Wissens sein, nicht der Wissende selbst. Der Liebende des Wissens, das nur dem wissenden Gott zusteht, der philosophos, wird durch die Sinnverschränkungen der Stelle zum theophilos, zum Liebenden des Gottes. Wenn wir nun Hegels Idee des Philosophierens neben die Platonische halten, so müssen wir sagen, daß es zwar ein Fortschreiten in der Klarheit und Genauigkeit des Wissens von der Seinsordnung gibt, daß aber der Sprung aus den Schranken der Endlichkeit in die Vollkommenheit des wirklichen Wissens unmöglich ist. Wenn ein Denker ihn versucht, fördert er nicht die Philosophie, sondern verläßt sie und wird Gnostiker. Hegel verdeckt den Sprung dadurch, daß er Philosophie und Gnosis ins Deutsche übersetzt, um durch das Wortspiel mit dem Wissen von der einen in die andere zu gleiten. Es ist ein Wortspiel, verwandt in der Struktur mit dem Platonischen im Phädros. Aber das philosophische Wortspiel läßt den Gedanken aufleuchten, während das gnostische den Ungedanken verdecken muß. Der Punkt sei angemerkt, weil gerade die deutschen Gnostiker gerne mit Worten spielen und durch das Spiel mit der Sprache den Ungedanken verbergen. (Fs)

83a In der Folge solcher Übergänge, die in der Tat Sprünge sind, verkehren sich die Wortbedeutungen. Das gnostische Programm, das Hegel mit Erfolg durchführt, verbleibt unter dem Titel Philosophie; und das spekulative System, in dem der Gnostiker seinen Willen zur Beherrschung des Seins entfacht, verbleibt unter dem Titel Wissenschaft. (Fs)

83b Philosophie entspringt der Liebe zum Sein; sie ist das liebende Bemühen des Menschen, die Ordnung des Seins zu erkennen und sich auf sie einzustimmen. Gnosis will Herrschaft über das Sein; um sich des Seins zu bemächtigen, konstruiert der Gnostiker sein System. Das System ist eine gnostische Denkform, nicht eine philosophische. (Fs)

83c Der Denker kann sich des Seins jedoch nur dann durch das System bemächtigen, wenn das Sein wirklich in seinem Griff liegt. Solange der Ursprung des Seins jenseits des Welt-Seins liegt; solange ewiges Sein mit dem Werkzeug innerweltlicher, finiter Erkenntnis nicht vollständig durchdrungen werden kann; solange über göttliches Sein nur in der Denkform der analogia entis gedacht werden kann, ist die Konstruktion eines Systems unmöglich. Um das Unternehmen überhaupt sinnvoll in Gang zu bringen, muß der Denker vor allem diese Störungen ausschalten - er muß das Sein so auslegen, daß es grundsätzlich im Griff der Konstruktion liegt. Lassen wir wieder Hegel zu der Frage sprechen: 'Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.'3 Wie bei einem mathematischen Problem werden die Bedingungen der Lösung formuliert. Wenn das Sein die Substanz und in einem das Subjekt ist, dann liegt die Wahrheit allerdings im Griff des zugreifenden Subjekts. Aber, so müssen wir fragen, sind das Subjekt und die Substanz denn wirklich identisch? Hegel wird mit der Frage fertig, indem er die Wahrheit seiner Einsicht für erwiesen erklärt, wenn er sie 'durch die Darstellung des Systems rechtfertigen' kann. Wenn ich also ein System konstruieren kann, dann ist damit die Wahrheit seiner Prämisse erwiesen; daß ich ein System auch auf Grund einer falschen Prämisse konstruieren kann, kommt nicht in Frage. Das System rechtfertigt sich durch die Tatsache seiner Konstruktion; eine Instanz, die das Konstruieren eines Systems als solches in Frage stellen könnte, wird nicht anerkannt. Daß die Wissenschaft Systemform habe, muß als fraglos vorausgesetzt werden. Wir stehen wieder vor dem Phänomen des Frageverbotes, wie bei Marx. Aber wir sehen jetzt klarer, daß zwischen dem Frageverbot und der Konstruktion des Systems ein Wesenszusammenhang besteht. Wer das Sein ins System bringt, kann nicht Fragen zulassen, die das System als Denkform aufheben.4 (Fs)

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Fußnote 4 (oben), 26 (im Buch):

Fn26a1

(1) Hegel unterscheidet zwischen der 'Philosophie selbst' und der 'Philosophie der Weltgeschichte'. Der Philosoph tritt an die Auslegung der Weltgeschichte mit der 'Voraussetzung' heran, 'daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist'. 'In der Philosophie selbst ist dies keine Voraussetzung; in ihr wird es durch die spekulative Erkenntnis erwiesen, daß die Vernunft - bei diesem Ausdrucke können wir hier stehen bleiben, ohne die Beziehung und das Verhältnis zu Gott näher zu erörtern - die Substanz, wie die unendliche Macht, sich selbst der unendliche Stoff alles natürlichen und geistigen Lebens, wie die unendliche Form, die Betätigung dieses ihres Inhaltes ist' (28) - Das Verhältnis der Vernunft zu Gott, das in diesem Satz noch in Schwebe bleibt, wird im weiteren Verlauf des 'Zweiten Entwurfs' geklärt. (Fs)

Fn26b Die Vernunft ist unter dem Titel 'Idee' das Absolute, das sich offenbart: 'Daß nun solche Idee das Wahre, das Ewige, das schlechthin Mächtige ist, daß sie sich in der Welt offenbart und nichts in ihr sich offenbart als sie, ihre Herrlichkeit und Ehre, dies ist es, was, wie gesagt, in der Philosophie bewiesen und hier so als bewiesen vorausgesetzt wird' (29). Die Intention der Attribute als göttliche und die Identifizierung Gottes mit der Vernunft, die sich in Spekulation und Geschichte entfaltet, wird in der folgenden Stelle klargestellt: 'Der Weltgeist ist der Geist der Welt, wie er sich im menschlichen Bewußtsein expliziert; die Menschen verhalten sich zu diesem als Einzelne zu dem Ganzen, das ihre Substanz ist. Und dieser Weitgeist ist gemäß dem göttlichen Geiste, welcher der absolute Geist ist. Insofern Gott allgegenwärtig ist, ist er bei jedem Menschen, erscheint im Bewußtsein eines jeden; und dies ist der Weltgeist.' (60) (Fs)

Fn26c
(2) Da die Idee identisch ist mit der sich offenbarenden Gottheit, wird das Schema des Fortgangs von der Philosophie zur Gnosis aus der Sphäre der 'Philosophie selbst' auf die 'Philosophie der Weltgeschichte' übertragen. Es sei die Aufgabe des Philosophen, von der partiellen Offenbarung Gottes durch Christus zur vollkommenen Erkenntnis Gottes fortzuschreiten. Zu der Aufgabe sei er verpflichtet durch die 'heilige Schrift', nach der 'der Geist es sei, der in die Wahrheit einführe, daß er alle Dinge erkenne, selbst die Tiefen der Gottheit'. (40f) Die Aufgabe selbst wird in der folgenden Stelle formuliert: 'In der christlichen Religion hat Gott sich geoffenbart, d.h. er hat dem Menschen zu erkennen gegeben, was er ist, so daß er nicht mehr ein Verschlossenes, Geheimes sei. Es ist mit dieser Möglichkeit, Gott zu erkennen, uns die Pflicht dazu auferlegt, und die Entwicklung des denkenden Geistes, welche aus dieser Grundlage, aus der Offenbarung des göttlichen Wesens, ausgegangen ist, muß dazu endlich gedeihen, das, was dem fühlenden und vorstellenden Geiste zunächst vorgelegt worden ist, auch mit dem Gedanken zu erfassen. Ob es an der Zeit ist zu erkennen, muß davon abhängen, ob das, was Endzweck der Welt ist, endlich auf allgemeingültige, bewußte Weise in die Wirklichkeit getreten ist.' (45) (85f; Fs)
Fn26d

(3) Das Programm, die Tiefen der Gottheit durch ihre Entfaltung in der Weltgeschichte restlos zu durchdringen, ist an die Bedingung geknüpft, daß der Endzweck der Welt sich in der Weltgeschichte wirklich ausgefaltet hat und begreifbar geworden ist. So wie auf der Ebene der 'Philosophie selbst' die Wahrheit der Einsicht durch 'die Darstellung des Systems' gerechtfertigt wird, so wird in der 'Philosophie der Weltgeschichte' die Richtigkeit der These von der vollständigen Offenbarung durch die Exekution des Programms bewiesen: 'Es hat sich also erst und es wird sich aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen, daß sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen' (30) - man beachte das Perfektum. 'Daß in den Begebenheiten der Völker ein letzter Zweck das Herrschende, daß Vernunft in der Weltgeschichte ist - nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts, sondern die göttliche, absolute Vernunft -, ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen, ihr Beweis ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst: sie ist das Bild und die Tat der Vernunft.' (29) (Fs)

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