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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis; 3. Stadium, Revolte (Marx); Ersetzung der Realität durch gnostische Spekulation; zweite Realität (Musil); Prometheus (Marx vs. Aischylos, nósema); Titanenaufstand - Dike

Kurzinhalt: Marx: "Ein Wesen gibt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht; und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt...." Gnostiker, der die Unabhängigkeit seines Daseins durch die Spekulation erzeugt.

Textausschnitt: 3 (eü: Revolte, Marx)

77b Die Texte von Marx, die wir zitiert haben, lassen das erste und zweite der von Nietzsche beschriebenen Stadien erkennen. Wie steht es bei Marx mit dem dritten Stadium der Bewegung, mit der Enthüllung der Revolte gegen Gott als des Motivs der Täuschung? Im Kontext der zitierten Stellen findet sich in der Tat eine solche Enthüllung: 'Ein Wesen gibt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht; und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt. Ein Mensch, der von der Gnade eines anderen lebt, betrachtet sich als ein abhängiges Wesen. Ich aber lebe vollständig von der Gnade eines anderen, wenn ich ihm nicht nur die Unterhaltung meines Lebens verdanke, sondern wenn er noch außerdem mein Leben geschaffen hat; wenn er der Quell meines Lebens ist; und mein Leben hat notwendig einen solchen Grund außer sich, wenn es nicht meine eigene Schöpfung ist.'1 Marx bestreitet nicht, daß die 'Handgreiflichkeiten' für die Abhängigkeit des Menschen sprechen. Aber die Wirklichkeit muß zerstört werden - das große Anliegen der Gnosis. An ihre Stelle tritt der Gnostiker, der die Unabhängigkeit seines Daseins durch die Spekulation erzeugt. Es dürfte wohl kaum eine andere Stelle in der gnostischen Literatur zu finden sein, in der die Spekulation so klar als der Versuch enthüllt wird, an die Stelle der Seinswirklichkeit eine 'zweite Realität' zu setzen - wie Robert Musil dieses Unternehmen genannt hat. (Fs)

78a Noch tiefer in das Problem der Revolte hinein führt eine Stelle aus der Doktordissertation von 1840/41: 'Die Philosophie verheimlicht es nicht. Das Bekenntnis des Prometheus: 'In einem Wort, ich hasse alle Götter', ist ihr eigenes Bekenntnis, ihr eigener Spruch gegen alle irdischen und himmlischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen. Es soll Keiner neben ihm sein.'2 In diesem Bekenntnis, in dem der junge Marx seine eigene Haltung unter das Symbol des Prometheus stellt, leuchtet die große Geschichte der Revolte auf, bis zurück zur hellenischen Schöpfung des Symbols. (Fs)

78b Stellen wir vor allem das Verhältnis des Marxischen Textes zu dem zitierten Verse des Äschylos (Aischylos) klar.

Prometheus ist an den Felsen am Meer geschmiedet. Unten am Uferstreifen steht Hermes und blickt zu ihm hinauf. Der Gefesselte läßt seiner Bitterkeit freien Lauf; Hermes besänftigt und mahnt zur Mäßigung. Prometheus preßt seine Ohnmacht und Auflehnung in den von Marx zitierten Vers: 'Mit einem Wort, ich hasse alle Götter.'3 Aber der Vers ist nicht Monolog; auf den Ausbruch des Hasses antwortet warnend die Stimme des Götterboten: 'Mich dünkt, dich schlug kein kleiner Wahnsinn.'4 Das Wort, das ich mit Wahnsinn übersetze, ist das griechische nosos; synonym damit gebraucht Äschylos nosema.5 Es bedeutet körperliche oder geistige Krankheit. Im Sinne einer Erkrankung des Geistes kann es den Götterhaß bedeuten, oder das Beherrschtsein durch Leidenschaft schlechthin. Platon spricht z.B. vom nosema tes adikias, von der Krankheit der Ungerechtigkeit.6 Damit rühren wir an den schon früher angedeuteten krankhaften, den pneumopathischen Charakter der Revolte. Und was sagt Marx zu dieser Betrachtung des Götterboten? Er sagt nichts. Wer den 'Gefesselten Prometheus' nicht kennt, muß aus dem Bekenntnis schließen, daß der zitierte Vers den Sinn der Tragödie zusammenfaßt, nicht daß Äschylos (Aischylos) den Götterhaß als Wahnsinn darstellen wollte. An der Verkehrung des Äschyleischen Sinns in sein Gegenteil wird wieder das Phänomen des Frageverbotes in allen seinen Schichten deutlich: Von der Täuschung des Lesers durch die Isolierung des Zitates (das Bekenntnis findet sich in der Vorrede zu einer Doktordissertation) über das Wissen um den Schwindel (denn wir nehmen an, daß Marx die Tragödie gelesen hat) bis zum dämonischen Beharren in der Revolte gegen das bessere Wissen. (Fs)

79a Die seelische Revolte gegen die Ordnung des Kosmos, der Götterhaß, der Titanenaufstand sind dem hellenischen Mythos nicht unbekannt - aber die Titanomachia endet mit dem Sieg der Jovischen Dike, und Prometheus wird gefesselt. Die revolutionäre Umkehrung des Symbols, die Entthronung der Götter und der Sieg des Prometheus, liegt jenseits der klassischen Kultur; sie ist das Werk der Gnosis. Erst in der gnostischen Revolte der römischen Zeit werden Prometheus, Kain, Eva und die Schlange zu den Symbolen der Befreiung des Menschen von der Herrschaft des tyrannischen Weltgottes. Das Marxische Bekenntnis wiederholt die Umdeutung des Prometheussymbols, die sich in einer Alchimistenschrift des dritten Jahrhunderts findet. (79f; Fs)

80a Im Traktat des Zosimos Über den Buchstaben Omega lesen wir: »Hermes und Zoroaster haben gesagt, daß das Geschlecht der Philosophen über dem Schicksal ist: sie erfreuen sich nicht am Glück, das es gibt, denn sie beherrschen ihre Lust; noch werden sie vom Übel getroffen, das es schickt, wenn es wahr ist, daß sie auf das Ende aller ihrer Übel hinblicken; noch nehmen sie die schönen Geschenke an, die von ihm kommen, denn sie verbringen ihr Leben in der Immate-rialität. - Darum auch stellt Hesiod Prometheus vor, wie er Epime-theus Ratschläge gibt:

(Prometheus:) >Was ist in den Augen der Menschen das größte Glück?<
(Epimetheus:) >Eine schöne Frau und viel Geld.<
Und er (Prometheus) erklärt: >Hüte dich, Geschenke vom Olympischen Zeus anzunehmen; weise sie weit von dir!<
So lehrt er seinen Bruder, die Geschenke des Zeus, d.h. der Hei-marméne, kraft der Philosophie zurückzuweisen.«7

80b Der Text ist von besonderer Bedeutung für uns, weil er den Zusammenhang zwischen der Revolte gegen die Götter und der Proklamation der »Philosophie« als der neuen Ordnungsquelle und Autorität bestätigt. Nicht nur Prometheus wird zum Revolutionshelden - das Symbol der Philosophie erleidet die gleiche Verkehrung seines Sinnes. Denn die »Philosophie« des Zosimos ist nicht die Philosophie, die Piaton begründet hat. Die Philosophen sind nicht im Sinne des Platonischen Mythos die Söhne des Zeus, die im Jenseits und Diesseits seiner Führung folgen; noch sind sie die Priester und Helfer der Götter des Markus Aurelius; ihr Bemühen geht nicht darum, die Menschen zur Ordnung des Zeus und der Dike zu bilden; und Philosophieren ist nicht die Sokratische Praxis des Sterbens, damit der Mensch im Letzten Gericht bestehe. Bei der »Philosophie« des Zosimos handelt es sich um etwas anderes, wenn auch der Text, soweit er zitiert wurde, nicht hinreichend erkennen läßt, worum. Sicher geht es um eine neue Askese, um den Versuch, sich aus der Welt und ihrer Verstrickung herauszuhalten - das gnostische Motiv der Wirklichkeitsaufhebung. Die Wandlung der Pan-dora mit ihren Geschenken zur »schönen Frau und viel Geld« trägt Obertöne einer antibourgeoisen Kritik. Sicher geht es um einen Aufstand gegen die Vatergötter des klassischen Mythos, denn die Gleichsetzung der Geschenke des Zeus mit den Gaben der zur Zeit des Zosimos reichlich diskreditierten Heimarméne ist zweifellos herabsetzend gemeint. Sicher geht es um ein opus der Erlösung des Menschen vom Übel der Welt. Und sicher ist schließlich, daß die »Philosophie« auf irgendeine Weise als Werkzeug der Erlösung und ihr Gebrauch als im Machtbereich des Menschen liegend bestimmt wird.8

81a Ob Marx diesen Text, unmittelbar oder durch Vermittlung, gekannt hat, wissen wir nicht - wahrscheinlich nicht; um so stärker würde die Parallele des symbolischen Ausdrucks die Gleichartigkeit der Haltungen und Motive in der antiken und modernen Gnosis bekräftigen.9 (81a)

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