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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis; Nietzsche (libido dominandi); "Grausamkeit des intellektuellen Gewissens" vs periagoge (Platon); Genuss der Maske; intellektueller Schwinderl: 3 Stadien (Täuschung, Wissen um den Schwindel, Revolte gegen Gott)

Kurzinhalt: Aber die gnostische Bewegung des Geistes führt nicht zur erotischen Öffnung der Seele, sondern zu dem tiefsten Punkt des Beharrens in der Täuschung, an dem sich als ihr Motiv und Zweck die Revolte gegen Gott enthüllt.

Textausschnitt: 73b Nietzsche führt den Machtwillen, den Willen zur Herrschaft, die libido dominandi, als die Leidenschaft ein, die den Willen zur intellektuellen Täuschung erklären soll. Betrachten wir den Weg, auf dem diese Leidenschaft den gnostischen Denker von Station zu Station treibt. (Fs)

73c In Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 230, spricht Nietzsche von einem 'Grundwillen des Geistes', der sich als Herrn fühlen will. Dem Herrschaftswillen des Geistes dient fürs erste 'ein plötzlich herausbrechender Entschluß zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschließung, [...] eine Art Verteidigungs-Zustand gegen vieles Wißbare'. Ferner will der Geist gelegentlich sich täuschen lassen, vielleicht mit einer mutwilligen Ahnung davon, daß es so und so nicht steht, daß man es so und so eben nur gelten läßt [...] ein Selbstgenuß an der Willkürlichkeit aller dieser Machtäußerungen'. Und endlich gehört hierher 'jene nicht unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen und sich vor ihnen zu verstellen' der Genuß 'der Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit'.1 (73f; Fs)

74a Die libido dominandi hat jedoch eine Stärke und Grausamkeit, die über den Genuß der Maske und der Täuschung des andern hinausführt. Sie wendet sich gegen den Denker selbst und entlarvt sein Denken als ein verschlagenes Machtwollen. 'Eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens', 'eine ausschweifende Redlichkeit' löst die Täuschung wieder auf, aber - und das ist der entscheidende Punkt - nicht um zur Wahrheit jenseits der Täuschung vorzudringen, sondern nur um eine neue an die Stelle der alten zu setzen. Das Maskenspiel geht weiter; und der andere bleibt getäuscht, wenn er sich täuschen läßt. In dieser 'Grausamkeit des intellektuellen Gewissens' erkennen wir die geistige Bewegung, die in der Gnosis Nietzsches funktionell der Platonischen periagoge, der Umkehr und dem Öffnen der Seele, entspricht. In der gnostischen Bewegung bleibt jedoch der Mensch gegen das transzendente Sein verschlossen, der Wille zur Macht stößt an die Mauer des Seins, das zum Gefängnis geworden ist; er zwingt den Geist in den Rhythmus von Täuschung und Selbstzerfleischung.2 (Fs)

74b Der Zwang zur Täuschung steht nun weiter in Frage. Stößt der Geist wirklich an die Mauer des Seins? Oder will er nicht vielleicht an ihr Halt machen? Die Perspektive in die tiefere Tiefe des Machtwillens eröffnet der Aphorismus: 'Herrschen - und nicht mehr Knecht eines Gottes zu sein: - dieses Mittel blieb zurück, den Menschen zu veredeln.' Herrschen heißt Gott sein; um Gott zu sein, nimmt der gnostische Mensch die Leiden der Täuschung und Selbst-zerfleischung auf sich.3 (Fs)

75a Noch ist die Bewegung nicht zu Ende. Noch weiter führt die Frage, ob der Denker wirklich Gott sein wolle. Ist die Versicherung dieses Willens nicht vielleicht auch noch eine Täuschung? Im Zarathustra, im Nachtlied, findet sich zu der Frage eine aufschlußreiche Konfession: 'Nacht ist es nun: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden - Eine Begierde nach Liebe ist in mir [...] (Aber) Licht bin ich: ach, daß ich Nacht wäre! [...] dies ist meine Einsamkeit, daß ich von Licht umgürtet bin [...] Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht [...] Das ist meine Armut, daß meine Hand niemals ausruht vom Schenken [...] Ihr erst seid es, ihr Dunklen, ihr Nächtigen, die ihr Wärme schafft aus Leuchtendem [...] Eis ist um mich, meine Hand verbrennt sich an Eisigem! [...] Nacht ist es: ach, daß ich Licht sein muß.' In dieser Konfession scheint die Stimme eines Spiritualen zu sprechen, der am Bewußtsein seiner dämonischen Verschlossenheit leidet. Die mystische Nacht ist ihm versagt; er ist gefangen im eisigen Licht seiner Existenz; und aus dem Gefängnis steigt die Versicherung, halb Klage, halb Gebet, und doch nicht frei vom Trotz des Rebellen: 'Auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.'4 (74f; Fs)

75b Niemand wird diese Klage eines Menschen, dem die Humilitas vor Gott nicht gegeben war, ohne Ergriffenheit hören. Wir stehen, jenseits einer Psychologie des Machtwilles, vor dem Unerforschlichen, daß Gnade gewährt oder versagt wird. (Fs)

75c Die Ergriffenheit darf uns jedoch nicht hindern, das Bedenkliche der Konfession zu sehen. Ich habe ihr die Frage vorangeschickt, ob der gnostische Denker wirklich Gott sein wolle, oder ob die Versicherung seines Willens nicht auch noch eine Täuschung sei. Das Nachtlied scheint die Täuschung zu gestehen - er will nicht Gott sein, er muß es sein aus unerforschlichen Gründen. Gegenüber dieser zweiten, die erste aufhebenden Versicherung drängt sich die Frage auf: Müssen wir sie akzeptieren? Müssen wir das Spiel der Täuschungen als beendet ansehen? Ich glaube nicht. Setzten wir das Spiel fort und fragen wir, ob nicht auch das Nachtlied noch eine Maske ist. Bedenken wir, daß Nietzsche bekennt, um seine Verschlossenheit zu wissen und an ihr zu leiden; kehren wir sein Bekenntnis gegen ihn und fragen wir: Muß ein Mensch aus der Not seines Zustandes, den er als gnadenlose Unordnung der Seele durchschaut, wirklich eine Tugend machen und ihn als übermenschliches Leitbild hinstellen? Berechtigt ihn sein Defekt, dionysische Tänze mit Masken aufzuführen? Fragen wir mit der Brutalität, zu der die Zeit uns zwingt, wenn wir nicht ihr Opfer werden wollen, ob er nicht vielmehr verpflichtet sei zu schweigen? Und wenn die Klage mehr als eine Maske, wenn sie echt wäre, wenn er an seinem Zustand litte, würde er dann nicht verstummen? Aber Nietzsche verstummt keineswegs; und seine Beredsamkeit ist der zwingende Beweis, daß die Klage nur im Bereich seines nachfühlenden Verstehens lag, daß er sie aber nicht an den Kern seiner Existenz im Aufstand gegen Gott rühren ließ, daß sie nicht echt war, sondern Maske. Wie Marx sich das Spiel seiner Äquivokationen nicht stören läßt, so weigert sich Nietzsche, das Spiel der Masken abzubrechen. (75f; Fs)

76a Das Phänomen des Frageverbots wird in seinen Umrissen deutlicher. Der gnostische Denker begeht in der Tat einen intellektuellen Schwindel - und er weiß, daß er es tut. Drei Stadien lassen sich in der Bewegung des Geistes unterscheiden. An der Oberfläche liegt der Akt der Täuschung selbst. Er könnte Selbsttäuschung sein; und sehr oft ist er es auch, wenn die Spekulation eines schöpferischen Denkers in der Form des Dogmas einer Massenbewegung zum abgesunkenen Kulturgut wird. Wo aber das Phänomen in seinem Ursprung zu fassen ist, wie bei Marx und Nietzsche, liegt tiefer als die Täuschung das Wissen um sie. Der Denker gibt sich nicht aus der Hand; die libido dominandi wendet sich gegen ihr eigenes Werk und will auch die Täuschung noch beherrschen. Diese gnostische Rückwendung gegen sich selbst entspricht geistig der philosophischen Umkehr, wie ich sagte, der periagoge im Platonischen Sinn. Aber die gnostische Bewegung des Geistes führt nicht zur erotischen Öffnung der Seele, sondern zu dem tiefsten Punkt des Beharrens in der Täuschung, an dem sich als ihr Motiv und Zweck die Revolte gegen Gott enthüllt. (Fs)

77a Mit Hilfe der drei Stadien in der geistigen Bewegung ist es nun möglich, auch die entsprechenden Tiefenschichten der Täuschung genauer zu unterscheiden: (Fs)

1. Für den Oberflächenakt ist es zweckmäßig, den Ausdruck 'Täuschung', den Nietzsche gebraucht hat, beizubehalten. Der Inhalt des Aktes unterscheidet sich nicht notwendig von einem Fehlurteil aus einem anderen als dem gnostischen Motiv. Der Akt könnte auch ein 'Irrtum' sein. Er empfängt seinen Täuschungscharakter erst vom Kontext der geistigen Bewegung.
2. Im zweiten Stadium wird der Denker sich der Unwahrheit seiner Aussage oder Spekulation bewußt, beharrt aber in ihr trotz seinem Wissen. Erst durch das Wissen um die Unwahrheit wird der Akt zur Täuschung. Und durch das Beharren im Kommunizieren als falsch erkannter Argumente empfängt er den zusätzlichen Aktcharakter des 'intellektuellen Schwindels'.
3. Im dritten Stadium wird als das Motiv des Schwindels die Revolte gegen Gott enthüllt und bewußt. Durch die Fortsetzung des intellektuellen Schwindels im Wissen um das Motiv der Revolte empfängt die Täuschung den weiteren Aktcharakter der 'dämonischen Verlogenheit'. (Fs)

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