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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Frageverbot (Marx); Natur - Mensch; generatio aequivoca; Frage nach der Schöpfung: Abstraktion von Natur u. Mensch (Marx); 'Gib deine Abstraktion auf, so gibst du auch deine Frage auf'; Comte

Kurzinhalt: Diese Spekulation hat den Zweck, den Seinsprozeß gegen transzendentes Sein abzuschließen und den Menschen sich selbst erzeugen zu lassen; und sie erreicht ihre Absicht durch das Spiel mit den Äquivokationen, in denen die 'Natur' einmal das...

Textausschnitt: 69a Ich will nun versuchen, das Phänomen des Frageverbotes vorzuführen, und zwar in der Form einer Analyse von repräsentativen Meinungen. Der Versuch wird also nicht nur das Phänomen vorführen, sondern in einem damit die Praxis der Analyse. Er soll zeigen, daß die geistige Unordnung der Zeit, die Kulturkrise, von der man so gern spricht, keineswegs als ein unabwendbares Schicksal hingenommen werden muß, sondern daß jedermann die Mittel zur Verfügung stehen, sie zu seinem Teil zu überwinden; und er soll nicht nur die Mittel zeigen, sondern auch die Methode ihrer Anwendung. Niemand ist verpflichtet, eine geistige Krise der Gesellschaft mitzumachen; im Gegenteil, jedermann ist verpflichtet, diesen Unfug zu unterlassen und in Ordnung zu leben. Die Vorführung des Phänomens wird es also gleichzeitig durch die therapeutische Analyse auflösen. (69; Fs)

1 (eg: Frageverbot bei Marx)

69b Als Ausgangspunkt möge das Frageverbot dienen, wie es in den Frühschriften von Karl Marx, im besonderen in dem Ms. über Nationalökonomie und Philosophie von 1844 auftritt. Marx ist ein spekulativer Gnostiker. Er konstruiert die Seinsordnung als einen in sich geschlossenen Prozeß der Natur. Die Natur ist im Werden, und im Laufe ihrer Entfaltung hat sie den Menschen hervorgebracht: 'Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen.'1 Im Werden der Natur fällt nun dem Menschen eine besondere Rolle zu. Denn dieses Wesen, das Natur ist, steht der Natur auch gegenüber und steht ihr in ihrem Werden bei durch die menschliche Arbeit, in der höchsten Form durch die naturwissenschaftlich begründete Technik und Industrie. 'Die in der menschlichen Geschichte [...] werdende Natur', 'die Natur, wie sie durch die Industrie [...] wird', ist 'die wahre anthropologische Natur'.2 Im Akt der Naturschöpfüng schafft jedoch gleichzeitig auch der Mensch sich selbst zur Fülle seines Wesens; und darum ist 'die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit'.3 Diese Spekulation hat den Zweck, den Seinsprozeß gegen transzendentes Sein abzuschließen und den Menschen sich selbst erzeugen zu lassen; und sie erreicht ihre Absicht durch das Spiel mit den Äquivokationen, in denen die 'Natur' einmal das umgreifende Sein ist, das andere Mal die Natur, die dem Menschen gegenübersteht, und ein drittes Mal die Natur des Menschen im Sinne von essentia. Seinen Höhepunkt erreicht das äquivoke Spiel in einem Satz, über den man leicht hinwegliest: 'Ein Wesen, welches seine Natur nicht außer sich hat, ist kein natürliches Wesen, nimmt nicht teil an dem Wesen der Natur.'4 (Fs)

70a Im Zusammenhang der Spekulation legt nun Marx sich selbst die Frage vor, welche Bedenken wohl 'das einzelne Individuum' gegen die Theorie von der 'generatio aequivoca' der Natur und des Menschen äußern werde. Denn 'das Durchsichselbstsein der Natur und des Menschen ist ihm unbegreiflich, weil es allen Handgreiflichkeiten des praktischen Lebens widerspricht'. Der einzelne Mensch wird auf der Suche nach seinem Ursprung, von Generation zu Generation rückwärtsschreitend, die Frage nach der Schöpfung des ersten Menschen erheben. Er wird das Argument des Regresses bringen, das in der ionischen Philosophie zum Problem der arche geführt hat. Auf solche Fragen, die durch das 'handgreifliche' Erlebnis motiviert werden, daß der Mensch nicht aus sich selbst existiert, will Marx die Antwort geben, daß sie 'ein Produkt der Abstraktion' seien. 'Wenn du nach der Schöpfung der Natur und des Menschen fragst, so abstrahierst du vom Menschen und der Natur.' Real seien nur die Natur und der Mensch, wie Marx sie in seiner Spekulation konstruiert; wenn der andere die Möglichkeit ihres Nicht-Seins setze, so könne er (Marx) nicht ihr Sein beweisen.5 (Fs)

Kommentar (vom 16.09.2012): "... so abstrahierst du vom Menschen und der Natur ...": Ein schönes Beispiel, wie eine schiefe Erkenntnistheorie sich selbst das Fundament schafft. (Lonergan).

71a An dieser Frage würde in der Tat die Konstruktion zusammenbrechen. Und wie zieht sich Marx aus dem Dilemma? Indem er den Frager anweist: 'Gib deine Abstraktion auf, so gibst du auch deine Frage auf.' Denn wäre der Frager konsequent, so müßte er sich selbst als nichtseiend denken, da er doch eben im Akt des Fragens ist. Darum nochmals die Anweisung 'Denke nicht, frage mich nicht'.1 Der 'individuelle Mensch' ist jedoch nicht verpflichtet, auf den Syllogismus von Marx hereinzufallen und sich selbst als nichtseiend zu denken, wenn er sich bewußt ist, nicht durch sich selbst zu sein. Und Marx gesteht ihm in der Tat noch dieses eine Gegenargument zu - ohne sich jedoch darauf einzulassen. An diesem Punkt bricht er die Debatte mit dem Dekret ab, 'für den sozialistischen Menschen', d.h. für den Menschen, der seine Konstruktion des Seins- und Geschichtsprozesses akzeptiert hat, sei eine solche Frage 'praktisch unmöglich geworden'. Die Fragen des 'individuellen Menschen' werden durch den Ukas des Spekulateurs abgeschnitten, der sich seine Konstruktion nicht stören lassen will. Wenn der 'sozialistische Mensch' spricht, hat der Mensch zu schweigen.2 (Fs)

71b Das wäre der Tatbestand, von dem wir auszugehen haben. Aber bevor wir in die Analyse selbst eintreten, sei vorgreifend festgestellt, daß das Marxistische Frageverbot weder isoliert noch harmlos ist. Es ist nicht isoliert in seiner Zeit, denn wir finden das gleiche Verbot bei Comte in der 1. Vorlesung seines Cours de Philosophie Positive. Auch Comte antizipiert Einwendungen gegen seine Konstruktion und lehnt sie rundweg als 'müßige Fragen' ab; ihn interessiere nun einmal nichts anderes als die Gesetzlichkeit der Sozialphänomene. Wer Fragen nach Wesen, Beruf und Schicksal des Menschen stellt werde vorläufig ignoriert; später, wenn sich das System des Positivismus sozial durchgesetzt habe, müsse er durch geeignete Maßnahmen zum Schweigen gebracht werden.3 Und das Frageverbot ist nicht harmlos, denn es ist massiv sozialwirksam geworden in Menschen, die sich selbst das Verbot auferlegen, in kritischen Situationen Fragen zu stellen. Man denke an die vor kurzem veröffentlichte Betrachtung von Rudolf Höß, dem Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz. Auf die Frage, warum er den Befehl zur Organisation der Vernichtung nicht abgelehnt habe, antwortete er: 'Ich stellte damals keine Überlegungen an - ich hatte den Befehl bekommen - und hatte ihn durchzuführen [...] Ich glaube nicht, daß unter den Tausenden von SS-Führern auch nur einer einen solchen Gedanken in sich hätte aufkommen lassen können. So etwas war einfach ganz unmöglich.'4 Das ist fast im Wortlaut die Marxische Erklärung, daß für 'den sozialistischen Menschen' eine solche Frage 'praktisch unmöglich geworden sei'. Wir sehen die drei großen Typen sich abzeichnen, für die ein menschliches Fragen praktisch unmöglich ist: den sozialistischen Menschen (im Marxischen Sinne), den positivistischen Menschen (im Comteschen Sinne) und den nationalsozialistischen Menschen. (Fs)

72a Und nun zu dem Marxischen Frageverbot. Es hat ein sehr kompliziertes geistiges Gefüge, wie wir sehen werden; und wir müssen eine der Komponenten nach der anderen isolieren. Zuerst die 'handgreiflichste'. Hier ist ein Denker, der weiß, daß seine Konstruktion zusammenbrechen wird, wenn jemand die erste philosophische Frage stellt. Bewegt dieses Wissen ihn, die unhaltbare Konstruktion aufzugeben? Keineswegs. Es bewegt ihn nur, das Fragen zu verbieten. Aber dieses Frageverbot bewegt nun uns zu der Frage: War Marx ein intellektueller Schwindler? Eine solche Frage wird vielleicht Bedenken erregen. Kann man ernstlich erwägen, daß das Lebenswerk eines Denkers von erheblichem Rang auf einem intellektuellen Schwindel aufgebaut ist? Daß es Massengefolgschaft findet und zu einer politischen Weltmacht wird, wenn es sich auf einen Schwindel gründet? Aber wir sind heute abgehärtet gegen solche Bedenken: wir haben zu viel unwahrscheinliche und unglaubwürdige Dinge gesehen, die dennoch wirklich waren. Und wir zögern darum nicht, die Frage, die sich angesichts des Tatbestandes aufdrängt, zu stellen - und zu beantworten: Ja, Marx war ein intellektueller Schwindler. Damit ist über Marx gewiß nicht das letzte Wort gesprochen - ich habe schon auf die Komplexität des geistigen Gefüges in den zitierten Stellen hingewiesen. Aber es muß unerbittlich das erste Wort sein, wenn wir uns das Verstehen des Frageverbotes nicht verbauen wollen. (72f; Fs)

73a Aber wenn wir feststellen, daß Marx ein intellektueller Schwindler war, dann erhebt sich sofort die weitere Frage nach dem Warum. Was kann einen Mann bewegen, einen solchen Schwindel zu begehen? Hat diese Tat nicht etwas Krankhaftes? Wenden wir uns zur Antwort auf diese Frage an Nietzsche, der auch ein spekulativer Gnostiker war, aber ein sensitiverer Psychologe als Marx. (Fs)

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