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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Politische Wissenschaft (politike episteme), Seinsordnung, Wahrheit der Existenz - Widerstand; existentieller Kampf um und gegen die Wahrheit; gefährlich: Doxa nimmt philosophische Form an; Verbot der Fragestellung

Kurzinhalt: Gegen das therapeutische Wirken der Wissenschaft leistet die Gesellschaft Widerstand. Weil eben nicht nur die Richtigkeit der Meinungen in Frage steht, sondern die Wahrheit der menschlichen Haltungen, die sich in den Meinungen ausdrücken...

Textausschnitt: 67b Gegen das therapeutische Wirken der Wissenschaft leistet die Gesellschaft Widerstand. Weil eben nicht nur die Richtigkeit der Meinungen in Frage steht, sondern die Wahrheit der menschlichen Haltungen, die sich in den Meinungen ausdrücken; weil das Bemühen um die Wahrheit sich gegen die Unwahrheit der Existenz in konkreten Menschen richtet, steigert sich die intellektuelle Auseinandersetzung, über die Ebene von Analyse und Argument hinaus, zum existentiellen Kampf um und gegen die Wahrheit - einem Kampf, der auf allen Stufen des menschlichen Seins, von der Geistigkeit der Überredung, der Peitho im Platonischen Sinne, über die psychologische Propaganda, bis hinunter zur physischen Attacke und Vernichtung geführt werden kann. Wir sind heute, unter den Eindrücken totalitären Terrors, vielleicht geneigt, vor allem an die physischen Formen des Widerstandes zu denken. Aber sie sind nicht die erfolgreichsten. Radikal und gefährlich wird der Widerstand erst, wenn das philosophische Fragestellen selbst in Frage gestellt wird, wenn die Doxa philosophische Form annimmt, wenn sie den Titel der Wissenschaft für sich arrogiert und die Wissenschaft als Nicht-Wissenschaft verbietet. Erst wenn dieses Verbot sozialwirksam durchgesetzt werden kann, ist der Punkt erreicht, an dem die Ratio als Remedium der geistigen Unordnung nicht mehr wirken kann. In der hellenischen Kultur ist er nie erreicht worden - Philosophieren konnte lebensgefährlich sein, aber die Philosophie, und im besonderen die politische Wissenschaft, blühte. Nie ist ein Grieche auf den Gedanken gekommen, das analytische Fragen als solches zu verbieten. (67f; Fs)

68a Das Gesamtbild der politischen Wissenschaft hat sich in den mehr als zweitausend Jahren, die seit ihrer Gründung vergangen sind, erheblich verändert. Die Erweiterung des zeitlichen und räumlichen Horizontes hat der vergleichenden Analyse gewaltige Materialmassen gebracht, die der Antike unbekannt waren; und der Eintritt des Christentums in die Geschichte hat durch die Spannung zwischen Vernunft und Offenbarung die Problematik des Philosophierens tief affiziert. Das Platonisch-Aristotelische Paradigma der besten Polis gibt uns keine Antwort mehr auf die großen Fragen unserer Zeit - weder auf die Organisationsfragen der Industriegesellschaft, noch auf die geistigen Fragen des Kampfes zwischen Christentum und Ideologie. An der Situation der politischen Wissenschaft, die ich eben kurz umrissen habe, hat sich jedoch, bis auf einen Punkt, nichts geändert. Heute wie vor zweitausend Jahren befaßt sich die politike episteme mit den Fragen, die jedermann angehen und die jedermann stellt; und wenn auch heute andere Meinungen in der Gesellschaft im Umlauf sind, so haben sich doch ihre Gegenstände nicht verändert. Ihre Methode ist noch immer die Analyse im Sinne der Wissenschaftslogik; und die Voraussetzung der Analyse ist noch immer die Erkenntnis der Seinsordnung bis zu ihrem Ursprung im transzendenten Sein, und im besonderen die liebende Offenheit der Seele zu ihrem jenseitigen Ordnungsgrund. (68; Fs)

68b Nur in einem Punkt hat sich, wie angedeutet, die Situation geändert. Ein Phänomen ist aufgetreten, das unsere modernen Gesellschaften so tief durchdrungen hat, daß seine Allgegenwart uns kaum noch Distanz läßt, es überhaupt zu sehen, ein Phänomen, das der Antike unbekannt war, das Verbot der Fragestellung. Es handelt sich dabei nicht um den Widerstand gegen die Analyse (den hat es auch in der Antike gegeben); nicht um Meinungen, die traditional und emotional zäh gehalten werden; nicht um Meinungen, deren Vertreter sich im guten Glauben der Richtigkeit ihrer Position naiv auf Argumente einlassen und erst zur Offensive übergehen, wenn die Analyse sie erschüttert; es handelt sich um Meinungen, deren Vertreter wissen, daß und warum sie einer kritischen Analyse nicht standhalten, und die darum das Verbot der Prüfung ihrer Prämissen zum Inhalt ihres Dogmas machen. Diese Haltung der bewußten und spekulativ sorgfältig durchgearbeiteten Verschließung gegen die Ratio ist das neue Phänomen. (68f; Fs)

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