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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Politische Wissenschaft (politike episteme - Platon, Aristoteles); Frage nach Glück; Philosoph - Philodox; philia -> sophon, eros -> agathon, kalon; Öffnung d. Seele -> Sichtbarkeit der Seinsordnung (epékeina); Meinungen (Symptom d. Unordnung)

Kurzinhalt: Das entscheidende Ereignis, das eigentlich philosophische, das die politike episteme begründete, war die Einsicht, daß die innerhalb der Welt unterscheidbaren Seinsstufen überhöht werden von einer jenseitigen Quelle des Seins und seiner Ordnung.

Textausschnitt: 63b Die politische Wissenschaft, die politike episteme, ist von Platon und Aristoteles gegründet worden.

In der geistigen Verwirrung der Zeit ging es um die Frage, ob ein Bild von der richtigen Seelen- und Gesellschaftsordnung entworfen werden konnte: ein Paradigma, ein Modell, ein Leitbild für die Bürger der Polis, so wie in der homerischen Zeit der paränetische Mythos den Helden als Leitbild diente. Der Bilder gab es zwar genug im Athen des vierten Jahrhunderts - der Meinungen über die richtige Lebensführung des Menschen und die richtige Ordnung der Gesellschaft. Aber war es möglich, aus dieser Vielzahl von skeptischen, hedonistischen, utilitaristischen, machtrationalen und parteipolitischen doxai eine als die richtige zu erweisen? Oder, wenn keine der kritischen Prüfung standhielt, ein neues Bild der Ordnung zu formen, das nicht auch wieder den Charakter einer unverbindlichen, subjektiven Meinung hatte? Aus den Bemühungen um die Antwort auf diese Frage ist die politische als eine philosophische Wissenschaft entstanden. (63f; Fs)

64a Die Gründung hat einen Kernbestand, der noch heute gültig ist. Im folgenden werde er kurz umrissen nach den Richtungen des Gegenstandes, der analytischen Methode und der anthropologischen Voraussetzung der Wissenschaft. (Fs)

64b Versichern wir uns zunächst des Gegenstandes. Er liegt nicht fern von den Tagesfragen; er ist nicht esoterisch. Es geht um die Wahrheit über Dinge, von denen jedermann spricht. Was ist Glück? und wie soll der Mensch sein Leben führen, um glücklich zu sein? Was ist Tugend? und im besonderen die Tugend der Gerechtigkeit? Welche Größenordnung von Territorium und Bevölkerung ist für eine Gesellschaft die beste, welche Art von Erziehung und Berufen und welche Art von Herrschaftsordnung? Alle diese Fragen erwachsen aus den Bedingungen der Existenz des Menschen in der Gesellschaft. Und der Philosoph ist Mensch wie jeder andere; er hat, was die Ordnung der Gesellschaft betrifft, keine anderen Fragen zu stellen als seine Mitbürger. (Fs)

64c Sein Fragen führt jedoch zu einem Konflikt mit den Meinungen -zu einem Konflikt von anderer Art als dem der Meinungen untereinander; denn wenn auch die Fragen des Philosophen sich auf die gleichen Gegenstände richten, so ist doch die Art seiner Fragestellung eine radikal andere. Die Frage des Philosophen unterscheidet sich von der des Philodoxen - das sind die Ausdrücke, die Platon für die Antagonisten eingeführt hat - dadurch, daß sie beim Versuch, zur Wahrheit jenseits der Meinungen vorzudringen, sich der Analyse im Sinne der Wissenschaftslogik bedient, wie Aristoteles sie in den Analytica Posteriora entwickelt hat. Und wenn das Instrument der Analyse angewendet wird, dann zerfallen die in einer Gesellschaft umlaufenden Aussagen über politische Dinge in die vor-analytischen Meinungen und in die wissenschaftlichen Sätze im strengen Sinne; und die Sprachsymbole in die vor-analytischen, unzureichend analysierten Ausdrücke und die analytischen Begriffe der politischen Wissenschaft. Die Meinungen und ihre Vertreter, die in der Tagespolitik sich befehden, rücken dadurch zusammen gegenüber ihrem gemeinsamen Gegner, dem Philosophen. (64f; Fs)

65a Wenn wir von der Analyse im Sinne der Wissenschaftslogik sprechen, soll damit der Gegensatz zur formalen Logik betont werden. Denn eine formal-logische Analyse kann zu nicht mehr führen als dem Nachweis, daß eine Meinung an einem inneren Widerspruch leidet, oder daß verschiedene Meinungen einander widersprechen, oder daß Schlüsse falsch gezogen wurden. Die Wissenschaftslogik dagegen ermöglicht ein Urteil über die Richtigkeit der Prämissen, die in einer Meinung enthalten sind. Zu dieser Leistung ist sie jedoch nur unter der Annahme befähigt, daß die Wahrheit über die Seinsordnung, auf die sich ja auch die Meinungen richten, objektiv feststellbar ist. Und die Platonisch-Aristotelische Analyse arbeitet in der Tat mit der Annahme einer der Wissenschaft jenseits der Meinungen zugänglichen Ordnung des Seins. Ihr Ziel ist die Erkenntnis der Seinsordnung, der Stufen der Seinshierarchie und ihres Verhältnisses zueinander, der Wesensgefüge der Seinsbereiche, und im besonderen des menschlichen Wesens und seiner Stellung im Ganzen des Seins. Die Analyse ist daher wissenschaftlich und führt zur Wissenschaft von der Ordnung, dadurch daß und insofern sie ontologisch gerichtet ist. (65; Fs)

65b Die Annahme allein, daß die Seinsordnung der Erkenntnis zuganglich, daß Ontologie möglich sei, genügt jedoch nicht zur Durchführung einer Analyse. Denn die Annahme könnte ja unbegründet sein. Es muß daher immer eine Erkenntnis betreffend einen Seinsverhalt schon real vorgegeben sein, nicht nur um die ersten Schritte im Unternehmen der Analyse zu tun, sondern vor allem um die Idee der Analyse überhaupt zu fassen und zu entwerfen. Und die Platonisch-Aristotelische Analyse hat auch keineswegs mit Spekulationen über ihre Möglichkeiten begonnen, sondern mit der tatsächlichen Erkenntnis eines Sachverhaltes, die den Prozeß der Analyse motivierte. Das entscheidende Ereignis, das eigentlich philosophische, das die politike episteme begründete, war die Einsicht, daß die innerhalb der Welt unterscheidbaren Seinsstufen überhöht werden von einer jenseitigen Quelle des Seins und seiner Ordnung. Und die Einsicht wieder hatte ihre Wurzel in den realen Bewegungen der menschlichen Geistseele auf das als jenseitig erlebte, göttliche Sein hin. In den Erlebnissen der Liebe zum weit-jenseitigen Ursprung des Seins, in der philia zum sophon, im eros zum agathon und kalon, wurde der Mensch zum Philosophen. Aus diesen Erlebnissen erwuchs das Bild von der Ordnung des Seins. Wenn die Seele sich öffnet - das ist die Metapher, in der Bergson von dem Ereignis spricht -, dann wird die Seinsordnung sichtbar bis zu ihrem Grund und Ursprung im Jenseits, dem Platonischen epékeina, an dem die Seele teilnimmt, indem sie ihr Öffnen erleidet und begeht. (65f; Fs)

66a Erst wenn die Seinsordnung im Ganzen, bis zu ihrem Ursprung im transzendenten Sein, im Blickfeld liegt, kann die Analyse mit Aussicht auf Erfolg unternommen werden. Denn erst jetzt ist es möglich, die Meinungen über rechte Ordnung, die in der Gesellschaft im Umlauf sind, daraufhin zu prüfen, ob sie mit der Seinsordnung zusammenstimmen. Wenn der Starke und Erfolgreiche hochgewertet wird, so kann ihm der Mann entgegengestellt werden, der die Tugend der phronesis, der Weisheit, besitzt, der Mann, der sub specie mortis lebt und der handelt im Blick auf das Letzte Gericht. Wenn die Staatsmänner gepriesen werden, die ihre Völker groß und mächtig gemacht haben, wie Themistokles und Perikles Athen, kann Platon ihnen den sittlichen Verfall entgegenhalten, der die Folge ihrer Politik war. (Man denke dabei nicht nur an klassische Beispiele, sondern vielleicht auch an das Werk Gladstones über Bismarck: daß er Deutschland groß und die Deutschen klein gemacht hat.) Und wieder: wenn feurige Jünglinge von der Vulgarität der Demokratie abgestoßen werden, kann Platon sie aufmerksam machen, daß Energie, Stolz und Herrschaftswille zwar das Gewaltregime einer geistig ungewaschenen Elite begründen können, nicht aber eine gerechte Herrschaft; wenn Demokraten von Gleichheit und Freiheit schwärmen und vergessen, daß Herrschaft geistige Zucht und intellektuelle Disziplin erfordert, kann er sie warnen, daß sie auf dem Wege zur Tyrannis sind. (66f; Fs)

67a Das sind genug der Beispiele, um zu zeigen, daß es in der politischen Wissenschaft, über die Richtigkeit der Sätze hinaus, um die Wahrheit der Existenz geht. Denn die Meinungen, um deren Klärung willen die Analyse unternommen wird, sind mehr als nur falsch, sie sind die Symptome geistiger Unordnung in den Menschen, die sie vertreten; und die Analyse wird in der Absicht geführt, zu überzeugen; sie will erreichen, daß ihre Einsichten, wenn möglich, in der Sozialrealität an die Stelle der Meinungen treten. In der Analyse geht es um die Therapie der Ordnung. (67; Fs)

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