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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis; Zeit der ökumenischen Reiche - Desorientierung; Erlebnis d. Welt als Fremde; Clemens von Alexandrien; Geworfenheit (Heidegger); Seinsordnung vs. Ontologie der alten u. neuen Gnosis; Gnostiker, Werk der Erlösung (Psyche, Pneuma); Irenäus

Kurzinhalt: Die Welt ist nicht mehr die wohlgeordnete, der Kosmos, ... Der gnostische Mensch hat nicht mehr den Willen, die wesenhafte Ordnung des Kosmos bewundernd zu erkennen; die Welt ist ihm ein Gefängnis geworden, dem er zu entfliehen sucht:

Textausschnitt: 60a Und nun ein Wort über die Gnosis selbst - über ihren Ursprung und einige ihrer Wesensmerkmale.

Mit dem siebten Jahrhundert vor Christus beginnt für die kosmologischen Zivilisationen in Mesopotamien, Syrien und Ägypten, sowie für die Völker des Mittelmeerbeckens, die Zeit der ökumenischen Reiche. Es folgen einander das Perserreich und die Eroberung Alexanders, die Diadochenreiche, die Expansion des Römischen Reiches und die Gründung der Parther und Sassaniden. Der Fall der alten Reiche im Osten, der Verlust der Unabhängigkeit für Israel, für die hellenischen und phönizischen Stadtstaaten, die Bevölkerungsverschiebungen, die Deportationen und Versklavungen, und die wechselseitige Durchdringung der Kulturen versetzten die Menschen, über deren Köpfe hinweg die Geschichte agiert wurde, in einen äußersten Zustand der Verlorenheit im Weltgetriebe, der geistigen Desorientierung, der materiellen und seelischen Unsicherheit. Der Sinnverlust der Existenz durch den Zusammenbruch der Institutionen, der Kulturen und der Volkszusammenhänge rief als Antwort die Versuche hervor, den Sinn des menschlichen Daseins neu zu verstehen, den Sinn der Existenz unter den gegebenen Bedingungen der Welt wiederzufinden. Zu diesen Versuchen, mit einer sehr großen Variationsbreite an Tiefe der Einsicht und an Wahrheitsgehalt, gehören die stoische Umdeutung des Menschen, dem die Polis sinnlos geworden war, in den Polites des Kosmos; die Polybianische Vision von der schicksalhaften Schöpfung der pragmatischen Ökumene durch Rom; die Mysterienreligionen; die heliopolitischen Sklavenkulte; die jüdische Apokalyptik; das Christentum; und der Manichäismus. Und in diese Reihe gehört, als eine der großartigsten unter den neuen Sinnschöpfungen, die Gnosis. (60f; Fs) (notabene)

61a Aus dem Reich der gnostischen Erlebnisse und symbolischen Ausdrücke sei der eine Zug herausgehoben, der als der zentral wesenhafte dieser weitverzeigten Sinnschöpfung anzusehen ist: das Erlebnis der Welt als einer Fremde, in die der Mensch sich verirrt hat und aus der er wieder heimfinden muß in die andere Welt seiner Herkunft. 'Wer hat mich in das Leid der Welt geworfen?' fragt in gnostischen Texten das 'große Leben', das zugleich das 'erste, fremde Leben aus den Lichtwelten' ist. Es ist fremd in dieser Welt, und diese Welt ist ihm Fremde. 'Diese Welt wurde nicht nach dem Wunsche des Lebens geschaffen'; und 'nicht nach dem Willen des großen Lebens bist du hergekommen'. Darum die Frage: 'Wer hat mich in die böse Finsternis versetzt?'; und die Bitte: 'Erlöse uns aus der Finsternis dieser Welt, in die wir geworfen sind.' Die Welt ist nicht mehr die wohlgeordnete, der Kosmos, in dem der hellenische Mensch sich heimisch fühlt; noch ist sie die jüdisch-christliche Welt, die Gott geschaffen und für gut befunden hat. Der gnostische Mensch hat nicht mehr den Willen, die wesenhafte Ordnung des Kosmos bewundernd zu erkennen; die Welt ist ihm ein Gefängnis geworden, dem er zu entfliehen sucht: 'Ohne Ausweg irrt die unselige Seele umher im Labyrinth voller Pein, in das sie geriet [...] Zu entfliehen sucht sie dem bitteren Chaos und weiß nicht, wie sie herauskommen soll.' Darum die verwirrte, klagende Frage an das große Leben: 'Warum hast du diese Welt geschaffen, warum hast du die Stämme aus deiner Mitte hinbefohlen?' Aus dieser Haltung erwächst die Programmformel der Gnosis, die Clemens von Alexandrien überliefert hat: Die Gnosis ist 'die Erkenntnis, wer wir waren, was wir wurden; wo wir waren und wohinein wir geworfen wurden, wohin wir eilen, woraus wir erlöst werden; was Geburt ist und was Wiedergeburt'. Um die Fragen der Herkunft, des Geworfenseins, der Flucht aus der Welt und der Mittel der Erlösung kreisen die großen spekulativen Mythopoeme der Gnosis. (Fs)

62a In den zitierten Texten wird der Leser Hegels entfremdeten Geist und Heideggers Geworfenheit des Daseins wiedererkannt haben. Die Gleichartigkeit des Welterlebens motiviert die Verwandtschaft im symbolischen Ausdruck. Und diese Gleichartigkeit erstreckt sich über das Welterleben hinaus, auf die Erlösung und das Menschenbild, mit denen die alten wie die modernen Gnostiker auf die Situation der Geworfenheit in die fremde Welt antworten. (Fs)

62b Um den Menschen von der Welt zu erlösen, muß vor allem die Erlösungsmöglichkeit in der Seinsordnung angelegt sein. In der Ontologie der alten Gnosis wird sie durch den Glauben an den 'fremden', den 'verborgenen' Gott gesichert, der den Menschen zu Hilfe kommt, ihnen seinen Abgesandten schickt, und ihnen den Weg weist aus dem Gefängnis des bösen Gottes dieser Welt (sei es Zeus oder Jahweh oder ein anderer der alten Vatergötter). In der modernen Gnosis wird sie gesichert durch die Annahme eines absoluten Geistes, der in der dialektischen Entfaltung des Bewußtseins aus der Entfremdung zu sich selbst kommt; oder eines dialektisch-materialistischen Prozesses der Natur, der in seinem Gang über die Entfremdung durch Gott und Privateigentum zur Freiheit des voll-menschlichen Daseins führt; oder durch die Annahme eines Willens der Natur, der den Menschen über sich selbst hinaus zum Übermenschen wandelt. (Fs)

62c Innerhalb der ontischen Möglichkeit hat der gnostische Mensch das Werk der Erlösung selbst zu betreiben. Durch seine Psyche gehört er der Ordnung, dem Nomos der Welt an; das, was in ihm zur Erlösung drängt, ist das Pneuma. Das Werk der Erlösung hat darum die Weltkonstitution der Psyche aufzulösen und gleichzeitig die Kräfte des Pneuma zu sammeln und in Freiheit zu setzen. Wie immer in den verschiedenen Sekten und Systemen die Phasen der Erlösung vorgestellt werden - sie variieren von magischen Praktiken bis zu mystischer Ekstase, von Libertinismus über Indifferentismus zur Welt bis zu strengster Askese - es geht um die Vernichtung der alten und den Übergang in die neue Welt. Das Instrument der Erlösung ist die Gnosis selbst, das Wissen. Da die Verstrickung in die Welt nach der gnostischen Ontologie durch die Agnoia, die Unwissenheit, verursacht ist, kann die Seele sich aus der Verstrickung wieder lösen durch das Wissen um ihr wahres Leben und ihren Zustand der Fremdheit in dieser Welt. Die Gnosis als das Wissen um die Verfallenheit an die Welt ist in einem das Mittel, ihr zu entfliehen. Über die Bedeutung, welche die Gnosis bei den Valentinianern hat, berichtet Irenäus: 'Die vollkommene Erlösung besteht in der Erkenntnis als solcher der Unaussprechlichen Größe. Denn da Sünde und Leid durch Unwissenheit (agnoia) entstanden sind, so wird durch das Wissen (gnosis) diese ganze aus der Unwissenheit entstandene Ordnung aufgelöst. Daher ist die Gnosis die Erlösung des inneren Menschen [...] Die Gnosis erlöst den inneren, pneumatischen Menschen - im Wissen um das Ganze hat er sein Genügen - und dies ist die wahre Erlösung.' (62f; Fs)

63a Damit möge es der Erklärungen genug sein. Nur eine Warnung ist noch geboten. Die Selbsterlösung durch das Wissen hat ihren eigenen Zauber - und dieser Zauber ist nicht harmlos. Denn am Gefüge der Seinsordnung ändert sich nichts, wenn ich es schlecht finde und vor ihm davonlaufe. Der Versuch der Weltvernichtung vernichtet nicht die Welt, sondern steigert nur die Unordnung in der Gesellschaft. Die Flucht der Gnostiker aus einem wahrhaftig heillosen, verwirrenden und erdrückenden Zustand der Welt ist verständlich. Aber die Ordnung der alten Welt wurde erneuert durch die Bewegung, die sich bemühte, das 'ernste Spiel' (um Platons Formel zu gebrauchen) durch liebendes Tun wieder in Gang zu bringen - durch das Christentum. (Fs)

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