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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Der Gottesmord

Titel: Der Gottesmord

Stichwort: Gnosis, Gnostiker: Marx; Entgleisung aus dem Traum; der neue Mensch; permanente Revolution: notwendig zur Zeugung des neuen Menschen; Symboltypus: Marx - Nationalsozialismus; Diktatur des Proletariats als Übergangsphase; Taktik

Kurzinhalt: Der Gnostiker muß die Entgleisung aus dem Traum befürchten... Diese argumentsichere Traumspekulation ist das krönende Schlußstück des gnostischen Wahnsinns, wie es von Marx in der Kritik des Gothaer Programms (1875) entwickelt und von Lenin ...

Textausschnitt: 47b Der Gnostiker muß die Entgleisung aus dem Traum befürchten. Das Problem jedoch wird für ihn dadurch kompliziert, daß der Fall in die Wirklichkeit ein Ereignis in der Zeit ist. Der Kampf gegen die alte Welt muß in der Wirklichkeit geführt werden; eine gnostische Prügelei zwischen SA-Leuten und ihren Gegnern unterscheidet sich in der Wirklichkeit nicht von einer nicht-gnostischen Prügelei. Die neue Welt beginnt mit der Zerstörung der alten, mit einem Umsturz der Institutionen; und wenn es eine kommunistische neue Welt ist, dann wird sie unvermeidlich psychologisch und Institutionen so aussehen wie der Marxische rohe Kommunismus. Mit der Roheit fängt das neue Äon an. An welchem Punkt beginnt nun die Transfiguration? Und wenn sie sich nicht sofort einstellt, wie lange muß die Roheit dauern, bevor das Urteil gefällt werden darf, daß mit der Transfiguration etwas schief gegangen sei? (Fs)

48a In seinen jüngeren Jahren, in der Deutschen Ideologie von 1845/46 beschäftigt sich Marx mit der Erzeugung des 'neuen Menschen' (synonym wurden gebraucht: totaler Mensch, sozialistischer Mensch, Übermensch) Der neue, der verklärte Mensch sollte sich im Erlebnis der revolutionären Aktion zeugen. Für die Massenerzeugung des kommunistischen Bewußtseins sei eine Veränderung des Menschen in der Masse nötig, wie sie nur durch das Erlebnis der Revolution verursacht werden könne. Die Revolution sei daher nicht nur nötig, um die herrschende Klasse zu stürzen, sondern vor allem, um die stürzende Klasse zu jener Höhe zu erheben, auf der sie 'den alten Dreck los' und damit fähig wird, die neue Gesellschaft zu gründen. Diese seltsame Vorstellung von der Schöpfung des Übermenschen durch revolutionären Blutrausch zeigt, wie nahe verwandt die neueren Gnostiker untereinander sind, auch wenn sie auf der geschichtlichen Szene einander bekämpfen. Der Marxische Blutrausch gehört dem gleichen Symboltypus an wie die nationalsozialistische Mystik, die durch den geheimnisvollen Chemismus von Blut und Boden den Menschen des Millenniums sich bilden läßt; und in einer Schrift eines deutschen Staatsrechtlers der nationalsozialistischen Periode finden wir, bei Gelegenheit von Betrachtungen über die Brutalitäten des Regimes, in der Tat die gleiche Formel wie bei Marx: 'Der Dreck muß heraus!' (48; Fs)

47b Wir müssen wiederholen, daß Gnostiker nicht dumm sind. Die Marxische Vorstellung von der Schöpfung des Übermenschen durch den Revolutionsakt kann zu Schwierigkeiten in der politischen Praxis führen. Wie, wenn nun die Revolution stattgefunden hat, wenn die neuen Herrscher die Macht fest in der Hand haben, und die Menschen sind immer noch dieselben alten Menschen; wenn vielleicht sogar prächtige Eliteerscheinungen, die persönlich einen Bourgeois, Juden oder Kommunisten umgebracht haben, nun ihrerseits liquidiert werden müssen, weil der Blutrausch sie nicht zu übermenschlicher Statur erhoben hat? Würden solche Beobachtungen auf den Gnostiker ernüchternd wirken, würde er aus seinem Traum zur Wirklichkeit erwachen? Keineswegs! Er sieht diese Möglichkeit voraus und, mit der Schlauheit des Irrsinnigen, baut er sie in seinen Traum ein. Marx hat die Voreiligkeit seiner Jugend korrigiert und in späteren Jahren, diese Möglichkeit bedenkend, eine Alternative entwickelt. Unter dem Eindruck der Kommune von 1871 formulierte er endgültig eine Idee, die seit dem Fehlschlag von 1848 im Reifen war: Nach der Machtergreifung wird es wieder einen Staat geben, vielleicht noch drückender als der alte; aber die Herrscher werden gewechselt haben. Und ein Staat, der von Heiligen (oder Genossen, oder Kameraden) beherrscht wird, unterscheidet sich von allen anderen Staaten dadurch, daß er absterben wird im Maße, in dem unter ihm die neuen Menschen wachsen. Der Staat der Heiligen ist eine Übergangsperiode von der alten zur neuen Welt. Die Zeit des Übergangs mag unbestimmt lange dauern, vielleicht Jahrhunderte, so daß unbequemere Fragen, ob ihre Länge nicht als Fehlschlag zu deuten sei, nicht entstehen können. Und wer nicht glaubt, daß die brutale Wirklichkeit nur ein Übergang zum Reich Gottes sei, der ist, je nach Jahrhundert und Position, ein Teufelsbraten, Bourgeois, Jude, Kommunist oder Faschist. Diese argumentsichere Traumspekulation ist das krönende Schlußstück des gnostischen Wahnsinns, wie es von Marx in der Kritik des Gothaer Programms (1875) entwickelt und von Lenin in Staat und Revolution (1917) weitergeführt wurde. Es ist die Lehre von der Diktatur des Proletariats als Übergangsphase, der die zweite Phase des wahren Kommunismus in unbestimmter Zeitferne folgen wird. (49; Fs)

49 Die Lehre von den zwei Phasen hat ihre ausdrückliche Formulierung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefunden. Als mehr oder weniger deutlich gesehene Voraussetzung gnostischen Handelns in der Wirklichkeit war sie jedoch wohl gegenwärtig, seit es eine Politik dieses Typus gibt; schon das große Puritanerporträt Richard Hookers, am Ende des 16. Jahrhunderts, zeigt sie mit aller Deutlichkeit als in der Argumentation seiner Gegner enthalten. Diese innere Logik der gnostischen Aktion hat darum schon vor der ausdrücklichen Formulierung die Idee der Revolution in bemerkenswerter Weise verändert. Revolution im Sinne dieser Lehre ist nicht mehr die große, schlagartige, zeitlich und sachlich fest umrissene Umwälzung der Gesellschaft, in der ein politisches Regime durch ein anderes ersetzt wird, sondern ein ins Unbestimmte hingezogener Prozeß, in dem die Machtergreifung selbst nur eine, wenn auch entscheidend bedeutsame Phase ist. Jahrzehnte revolutionärer Arbeit mögen diesen entscheidenden Schlag vorbereiten, und Jahrhunderte mögen ihm folgen, bis das eigentliche Ziel, die Traumrealität, erreicht wird. Es ist die »Revolution in Permanenz«. (Fs)

50a Das Wort »Revolution« ist erst durch die Französische Revolution von 1789 in allgemeinen Gebrauch gekommen. Die Phrase von der »Revolution in Permanenz« wurde in den liberalen Kreisen der restaurierten Monarchie in Frankreich geprägt. Charles Comte und Charles Dunoyer entwickelten im Censeur nach 1815 die Idee einer Politik, die gewaltsam zerstörende Ausbrüche und ebenso gewaltsame despotische Wiederherstellungen der Ordnung, wie die Schwingung der Großen Revolution von Terreur zu Empire sie eben gezeigt hatte, verhindern sollte durch zeitgerechte Reform der Übelstände, durch eine »permanente und weise regulierte Revolution«. (Fs)

50b Dieser Versuch, den Gnostikern die Revolution durch Sozialreform abzukaufen, ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Vor allem zeigt er, daß die pathologische Gnosis weit über den revolutionären Aktivismus hinaus in die moderne Politik eingedrungen ist. Im Schatten der Gnosis entwickelt sich ein »rechter« liberaler, progressiver Flügel, der die Idee der Revolution aufnimmt, aber ihrer zerstörenden Gewalttätigkeit durch ein evolutionäres, geordnetes Verfahren vorbeugen will. Diese Flügelbildung kann sich innerhalb der aktivistischen Bewegungen selbst ereignen, wie es der Fall der deutschen revisionistischen Sozialdemokratie zeigt. Oder sie kann, wie im Fall der Liberalen des Censeur, aus einer Politik der Zugeständnisse auf der Ebene der Wirklichkeit herauswachsen, aus einer Politik des peaceful change, wie sie besonders von Amerikanern zwischen den Weltkriegen propagiert wurde. Und sie kann sich in der internationalen Politik bis zu dem Versuch steigern, unter dem Titel »Völkerbund« oder »Vereinte Nationen« eine Institution zu schaffen, die die gnostische Krise der westlichen und verwestlichten Zivilisationen durch Rechtsverfahren bändigen und auf der Erde ein Gottesreich des Friedens zum halben Preis errichten will. (Fs)

51a Das Bedenkliche dieser Versuche liegt, fürs erste, in der Halbschlächtigkeit einer Politik ohne eigenen Gestaltungswillen, die einem gefährlich starken Willen mit kleiner Schlauheit »den Wind aus den Segeln nehmen« will. Es liegt zweitens, für den gegenwärtigen Zusammenhang wesentlich in dem Irrtum, daß der »Wind« der gnostischen Politik ein Verlangen nach Reformen sei, daß die von Marx verurteilte Entgleisung in die Wirklichkeit das Wesen des gnostischen Traumes sei, und darum daß in der Tat der Evolutionär oder Gradualist diese scheinbar »wirklichen« Erfolge der Revolution billiger erreichen könne. Dieser folgenschwere Irrtum hat in der jüngeren Vergangenheit die westliche Politik des appeasement motiviert, und motiviert noch heute zahlreiche wohlgemeinte Einzelmaßnahmen der Politik, die dem Kommunismus vorbeugen will. (Fs)

51b Daß es sich hier um einen bösen Irrtum handelt, wird klar, wenn man bedenkt, was »Revolution in Permanenz« für den gnostischen Aktivisten bedeutet. Die Phrase taucht bei Marx zum erstenmal in der Ansprache an den Bund der Kommunisten von 1850 auf. Der Vorstand des Bundes hatte seinen Mitgliedern begreiflich zu machen, warum der Fehlschlag von 1848 nicht das Ende, und wie die revolutionäre Aktion nun weiter zu führen sei. Die Lösung ist einfach: Es gibt keinen Fehlschlag der Revolution; die Revolution geht weiter, sie bewegt sich in Permanenz dem unverrückbaren Traumziel zu; es gibt nur Widerstände in der Wirklichkeit, und die müssen beharrlich durch einen Stil des politischen Handelns überwunden werden, für den Marx den Namen »Taktik« prägte. (Fs)

51c Das gnostische, politische Handeln, dessen Idee Marx entwickelte, verläuft in der Wirklichkeit, aber es hat zum Ziel die Traumrealität. Da nun die Traumrealität in der Wirklichkeit nicht hergestellt werden kann, entsteht die Frage, wie Mittel innerhalb der Wirklichkeit einem Ziel außerhalb der Wirklichkeit zugeordnet werden können; und die weitere Frage, wie eine solche Traumzuordnung in Kategorien der Wirklichkeit zu verstehen sei. Gewiß ist die Traumzuordnung nicht ein Typus von zweckrationalem Handeln, und es wird fraglich, ob man von ihr noch als von politischem Handeln sprechen kann. Die Bezeichnung dieses Traumhandelns als Taktik ist die von den Gnostikern selbst gefundene terminologische Lösung. (Fs) (notabene)

52a Hinter dieser sprachlichen Unterscheidung steht die gefährliche Tatsache, daß gnostische Politik ein pathologisches Phänomen jenseits normaler politischer Berechenbarkeit ist. Was Taktik konkret bedeutet, möge aus den Marxischen Ratschlägen in der Situation von 1850 ersehen werden. Die Kommunisten seien nicht an der Versöhnung der Klassengegensätze interessiert, sondern an der Abschaffung der Klassen, nicht an der Reform der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern an der Gründung einer neuen. Um den Kampf in Gang zu halten, müsse eine Stabilisierung der politischen Situation um jeden Preis verhindert werden. Während eines revolutionären Konflikts, sowie unmittelbar danach, müßten die Kommunisten jeden Versuch, die Erregung abzudämpfen, verhindern. Mobausschreitungen sollten nicht verhindert oder nur geduldet, sondern angezettelt und organisiert werden, um die Demokraten zu kompromittieren. Wenn eine verfassungsmäßige Ordnung wiederhergestellt sei, müßten die Kommunisten jede demokratische Maßnahme durch radikalere Forderungen übertrumpfen. Fordern die Demokraten die Nationalisierung von Eisenbahnen und Fabriken gegen angemessene Entschädigung, fordern die Kommunisten ihre Konfiskation; wenn die Demokraten eine gemäßigt progressive Steuer verlangen, müssen die Kommunisten eine verlangen, welche die höheren Einkommen ruiniert usw. Grundsätzlich müßten sich die Forderungen der Kommunisten immer an den Konzessionen und Maßnahmen der Demokratie orientieren. Das Prinzip dieser Ratschläge gilt für alle Situationen, innen- und außenpolitisch. Taktik ist die pathologische Negation der Politik, insofern sie im Prinzip Ordnung nicht schaffen, sondern zerstören will. (Fs)

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