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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 5a; N.begriff v. Rousseau (Discours, Émile); Verlust d. Teleologie in d. N. -> Frage nach dem guten Leben als Ursprungsfrage (status naturae); Ggs. dazu das beste Leben (Aristoteles); homme naturel als sprachloses Wesen; Spinoza, Substanz, Physik

Kurzinhalt: Der »status naturalis« wird zu einem nicht mehr faktisch-historischen, sondern rein hypothetischen Zustand, der aus methodischen Gründen angenommen werden muß. [In diesem] Zusammenhang bezieht sich Rousseau auf den »status naturae purae« der Theolologen

Textausschnitt: 99b Thematisiert wird der Naturbegriff von Rousseau in zwei Schriften, im zweiten >Discours<, dem über die Ungleichheit, und im >Émile<. Die Frage, auf die die zweite Preisschrift eine Antwort gibt, lautet, welches der Ursprung der Ungleichheit sei und ob sie gerechtfertigt sei durch das Naturrecht. Bezeichnenderweise wird die Frage nach der Legitimation als Ursprungsfrage gestellt. Seit dem Verschwinden des teleologischen Naturbegriffs kann die Frage nur noch so gestellt werden. Für die platonisch-aristotelische Tradition war die Frage nach dem, was von Natur recht ist, eine Frage nach dem, was für den Menschen das beste ist, nach dem, worin das gute Leben besteht. Von Natur zum Herrschen berufen sind deshalb die, die Einsicht in das Gute besitzen. Der konfessionelle Bürgerkrieg hatte gezeigt, daß die Frage nach dem Guten nun eher geeignet war, jedes politische Zusammenleben unmöglich zu machen. Die Konsequenz daraus berührt sich mit der Tendenz zur Aufgabe der teleologischen Sicht: »Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts anderes als das wirkliche Wesen des Dinges selbst«,3 schreibt Spinoza, nachdem die Physik dieses Prinzip bereits für die Gesetze der Bewegung statuiert hatte. Und Hobbes zieht die Konsequenz fürs Politische, indem es nun nicht mehr ums gute, sondern ums nackte Leben geht. Pufendorff aber verwirft ausdrücklich das Herrscherrecht der von Natur Einsichtigeren: »Es wäre ganz absurd zu meinen, die Natur habe den Klügeren über die Dümmeren auch schon ein Herrschaftsrecht gegeben.«4 (Fs) (notabene)

100a Die Frage nach der naturrechtlichen Legitimation von Herrschaft kann also nur genetisch gestellt werden, ausgehend von einer ursprünglich angesetzten Gleichheit. Die Frage nach dem Naturrecht wird zur Frage nach einem vorgesellschaftlichen »status naturae«: »Um die Gesetze der Natur kennenzulernen«, schreibt Montesquieu5,

muß man einen Menschen betrachten vor der Gründung der Gesellschaft. Die Gesetze der Natur werden die sein, die er in einem solchen Zustand empfangen würde. (Fs)

101a Natur ist also das Anfängliche. Dieses wird erschlossen durch Abstraktion von allem Institutionellen, geschichtlich Gewordenen. Es ist bekannt, daß Rousseau in dieser Abstraktion, Hobbes folgend, sehr viel weiter als dieser gegangen ist. Sein Einwand gegen Hobbes ist der, daß Hobbes zwar von den politischen Institutionen abstrahiert, aber den Menschen läßt, wie er ihn innerhalb der Gesellschaft vorfindet. Die Natur des Menschen hat jedoch durch die Geschichte eine so tiefgreifende Deformierung erfahren, daß durch bloße Empirie ein zureichender Begriff des Natürlichen nicht mehr gewonnen werden kann. Totale Abstraktion von allem, was nicht »physei« ist, muß ja sogar von der Sprachlichkeit abstrahieren, denn es gibt keine natürliche Sprache. Konsequenterweise setzt dann auch Rousseau den »homme naturel« als sprachloses Wesen an. Denn natürlich ist nur das, was aus der Vermögensstruktur des einzelnen Individuums entwickelt werden kann. Daraus folgt, daß der »homme naturel« auch nicht mehr dort gesucht werden kann, wo ihn das 18. Jahrhundert so gern suchte: im Primitiven. Der »status naturalis« wird zu einem nicht mehr faktisch-historischen, sondern rein hypothetischen Zustand, der aus methodischen Gründen angenommen werden muß. Und in eben diesem Zusammenhang bezieht sich Rousseau auf den »status naturae purae« der Theologen. »Lassen wir also zuerst einmal alle Tatsachen beiseite«, heißt es, und »freilich haben sich die Menschen nie im reinen Naturzustand (pur état de nature) befunden«.6 Dieser Naturzustand wird konstruiert, »indem dieses Wesen aller übernatürlichen Gaben, die es hat empfangen können, und aller künstlichen Fähigkeiten entkleidet wird«.7 Die Methode, mit deren Hilfe die Natur in ihrem positiven Gehalt ermittelt wird, ist die der Reflexion auf die eigene, noch nicht sprachlich vermittelte Spontaneität, eine »méditation sur les premières et plus simples opérations de l'âme humaine«.8 (Fs) (notabene)

102a Gesucht werden dabei die »Prinzipien, die der Vernunft vorausliegen«. Rousseau hat das Problem allerdings umgangen, das schon Fénelon klar vor Augen hatte, wie nämlich die Reflexion imstande sein soll, eine Spontaneität zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben wird. Er selbst schreibt ja: »Der Zustand der Reflexion ist ein widernatürlicher Zustand.«9 Die These von der Güte des »homme naturel« ist die These von der Reinheit der Spontaneität. »Seine erste Regung ist immer gut«, sagt Rousseau von Voltaire in einem Gespräch mit Bernardin de Saint Pierre, »die Reflexion erst ist es, die ihn bösartig macht.«10 Der »status naturae purae« ist nach Rousseau der der vollkommenen Selbstgenügsamkeit des einsamen Indiviuums. Er drängt deshalb von sich selbst her nicht über sich hinaus. Die Frage ist, woher es dann überhaupt zu einem Heraustreten aus der Natur kommt, und zwar einem so radikalen, daß die Natur zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Rousseau gibt die Antwort mit der Statuierung einer spezifischen Eigenart des natürlichen Menschen: der Freiheit als einer gewissen Unabhängigkeit vom Instinkt und der daraus folgenden Perfektibilität. Der Terminus scheint etwas Teleologisches zu beinhalten, aber Rousseau weist dies ausdrücklich ab. Die Perfektibilität ist keine Entelechie, die nach Verwirklichung eines Telos drängt, sondern eine bloß passive Disposition zur Entwicklung sozialer Eigenschaften. Eine Möglichkeit, die nur durch ein »zufälliges Zusammentreffen verschiedener äußerer Gründe«11 realisiert werden kann, also genau entsprechend der »potentia oboedientialis« der Spätscholastiker und des Suarez, die ja ebenfalls jedes positive »desiderium naturale« nach einer mehr als natürlichen Verfassung geleugnet hatten. Was den Naturzustand charakterisiert, ist kurz gesagt die totale Selbstbezüglichkeit des Individuums. »Die Natur ist stets auf sich selbst zurückgekrümmt«,12 dieses aus der augustinischen Tradition stammende Axiom findet in allen neuzeitlichen Naturtheorien seine Ausführung. So heißt es im >Émile<:

Der natürliche Mensch ist alles für sich; er ist numerische Einheit, absolutes Ganzes; er hat nur zu sich selbst und zu seinesgleichen Beziehung.13

104a Das Heraustreten aus dem Naturzustand löst den Menschen aus der einzigen Daseinsweise, die ihm einen festen Stand im Universum gibt. Es bleibt in seinem Sinn, seiner Rechtfertigung immer zweideutig. Die Stimme, die den Menschen aus dem »état naturel« ruft, ist die Stimme Gottes und des Bösen in einem. Seit Rousseau werden in der säkularen Deutung der Paradiesgeschichte die Berufung des Menschen in eine übernatürliche Ordnung und der Sündenfall in eins gesehen. Das Wort Augustins von der »felix culpa« und dem »quasi necessarium Adae peccatum« geht hier vorauf. Es war dem Zeitalter auch wohl durch das Zitat in Leibniz' Theodizee geläufig. Unmittelbar wirksam ist jedoch die protestantische Deutung des Paradieszustandes als eines Naturzustandes. Der Begriff des »supernaturale« hat für Luther ebenso wie für die Jansenisten erst einen Sinn für die Erlösungsgnade. Die Zweideutigkeit des Heraustretens aus dem Naturstand wird bei Rousseau deutlich, wo er auf den Einwand jener antwortet, die ihm die Predigt eines »retour à la nature« unterstellen:

O ihr, die ihr die göttliche Stimme niemals vernommen habt und die ihr nur als einzige Bestimmung eures Geschlechts erkennt, das kurze Leben in Frieden dahinzubringen; die ihr alles Schädliche, das ihr euch zugezogen habt, eure unruhigen Gemüter, eure verkehrten Herzen, eure ungebundenen Begierden in den Städten zurücklassen könnt, nehmt eure alte und erste Unschuld wieder an, es liegt nur an euch: Sucht die Wälder auf, um dort die Laster eurer Zeitgenossen aus den Augen und aus dem Andenken zu verlieren, fürchtet euch nicht, das menschliche Geschlecht zu entehren, wenn ihr seinen Einsichten entsagt, um zugleich seinen Lastern zu entsagen. Was aber die Menschen meinesgleichen betrifft, deren Leidenschaften schon auf ewig ihre ursprüngliche Einfalt unterdrückt haben, die nicht mehr von Kräutern und Eicheln leben und die weder Gesetze noch Oberherren entbehren können, jene, deren erste Väter mit übernatürlichen Lehren beehrt worden sind, jene, welche in der Absicht, den menschlichen Handlungen sogleich eine Sittlichkeit zu verschaffen, die sie sonst in sehr langer Zeit nicht hätten erlangen können, welche in dieser Absicht, sage ich, den Grund finden, warum ein Gebot gegeben wurde, das an sich gleichgültig und in keinem anderen System zu erklären ist, mit einem Worte, jene, welche überzeugt sind, daß die göttliche Stimme das ganze menschliche Geschlecht zu den Einsichten und zu der Glückseligkeit der himmlischen Geister gerufen hat, sie alle, sage ich, werden sich durch die Ausübung solcher Tugenden, zu welchen sie sich verpflichten, indem sie sie lehren, um den ewigen Preis bemühen, den sie dafür zu erwarten haben. Sie werden die heiligen Bande der Gesellschaft, deren Mitglieder sie sind, hochschätzen, sie werden ihren Nächsten lieben und ihm, soviel in ihrer Macht steht, dienen, sie werden die Gesetze gewissenhaft beobachten, und denjenigen, die sie gegeben haben und die sie verwalten, Gehorsam leisten..., aber sie werden dessenungeachtet eine Verfassung verachten, die nicht anders erhalten werden kann als vermittels so vieler ehrwürdiger Leute, die man öfter wünscht, als man sie findet, und aus welcher trotz aller Vorsorge immer noch mehr wirkliche Drangsale als scheinbare Vorteile entspringen.14

106a Eine himmlische Stimme ist es, die zu einem höheren Dasein aus der Natur herausruft, einem Dasein des Lasters und der Tugend zugleich anstelle der natürlichen Unschuld. Aber diese Stimme ist ein »superadditum«. Wer sich ihr zu entziehen und im »status naturae purae« zu verharren vermag, den trifft keine Schuld. Der Weg zur höheren Bestimmung des Menschen vielmehr ist es, der durch die Schuld führt. Das Dasein außerhalb des »status naturae purae« ist und bleibt ein entfremdetes Dasein. Der spätere Begriff der Entfremdung ist unzertrennlich verknüpft mit dem rousseauschen Naturbegriff. Da das Dasein, einmal aus dem Naturstand herausgetreten, von keiner Naturteleologie umfaßt bleibt, kann es auch an keinem naturrechtlichen Ideal mehr gemessen werden. Vom rückwärts gewendeten Ideal des Beisichseins des natürlichen Menschen her kann sehnsüchtig, kritisch oder ironisch jede Kulturgestalt desavouiert werden15 - auch und gerade die des Gemeinwesens, das Rousseau im >Contrat social< konstruiert. Rousseau schreibt im >Contrat social<, daß die antike politische Freiheit, die für ihn immer der Inbegriff politischer Freiheit ist, an die Sklaverei als ihre notwendige Voraussetzung geknüpft war, und er fährt fort:

Wie: Die Freiheit hält sich nur aufrecht mit Hilfe der Knechtschaft? Vielleicht. Die beiden Extreme berühren sich. Alles, was nicht in der Natur liegt, hat seine Unzuträglichkeiten, und die bürgerliche Gesellschaft mehr als alles übrige.16 (Fs)

107a Das Höchste, was der «homme civil« erreichen kann, ist die Integration in eine »société close«, die so total ist, daß sie die verlorene Naturbindung zu ersetzen vermag. Eine »mère commune« nennt Rousseau in einem Enzyklopädieartikel den Staat.17 Die politische Totalität setzt aber gerade die völlige Aufhebung der unschuldigen Selbstbezogenheit des »homme naturel« voraus. Deshalb sagt Rousseau: »Die guten sozialen Institutionen sind die, die es am besten verstehen, den Menschen zu denaturieren.«18 Und von Lykurg hebt er rühmend hervor: »Er hat das Herz des Menschen denaturiert.«19 Natur hat seit alters auch die Bedeutung von Wahrheit, Sein, gegen den Schein gehabt; Rousseaus politisches Ideal ist es, den Schein so total werden zu lassen, daß das Sein, die Natur verschwindet. Ein Schein, der kein Sein mehr als Gegenüber hat, ist nämlich selbst zum Sein geworden. So geht für Rousseau nur aus der totalen Selbstaufgabe der »indépendance naturelle« die politische Freiheit hervor. (Fs) (notabene)

108a Man hat Rousseau so interpretiert, daß er die Naturferne der eigenen Zeit beklage. Das ist falsch. Er beklagt das Zerbrechen der politischen Totalität und das partielle Wiederhervortreten der Natur. Denn dies führt zu der »existence double«, durch die das eigene Zeitalter charakterisiert ist. Die »existence double« macht das Wesen jenes Typus aus, der weder »citoyen« noch »homme naturel« ist: des Bourgeois. Der Bourgeois ist definiert als der Mensch, »der in der bürgerlichen Ordnung den Primat der natürlichen Gefühle erhalten will«.20,21 Er ist das Ergebnis der Auflösung der politischen Totalität. (Fs) (notabene)

109a Schuld an diesem Ende ist das Christentum. Durch seine Trennung des geistlichen vom politischen System, so heißt es im >Contrat social<, hat es die Einheit des Staates zerstört. Jede »gute Politie ist in christlichen Staaten unmöglich«. Rousseau bekennt sich hier ausdrücklich zur Sicht des Hobbes, ohne aber dessen Heilmittel, die erneute Einheit von Kirche und Staat, für möglich zu halten. Das Christentum ist seinem Wesen nach »natürliche Religion, Religion des Menschen, göttliches Naturrecht«22 und als solches unpolitisch, ja antisozial. Dennoch ist seine Macht unwiderstehlich, denn sie beruht auf seiner Wahrheit. Das Christentum zerbricht jenen wohltätigen Schein, auf den die antike politische Einheit gegründet war, denn diese war immer »gegründet auf Irrtum und Lüge«.23 (Fs) (notabene)

109b Was deshalb geschehen kann, ist nicht die Wiederherstellung der politischen Einheit, die auf Denaturierung gegründet war. Auch der >Contrat social< ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein Abgesang. Was geschehen muß, ist die Vollendung der Emanzipation des »homme naturel« durch eine »éducation naturelle«, die der bourgeoisen Zwittererziehung entgegengesetzt ist. Was aber heißt nun in diesem Zusammenhang »natürlich«, »Natur«? Rousseau antwortet: Diejenige Erziehung sei natürlich, die sich zum Ziel das »Ziel der Natur« setze.24 Aber was ist das Ziel der Natur? Wir haben ja gesehen, daß es ein solches den Kulturprozeß umgreifendes Ziel der Natur für Rousseau nicht gibt. Im »état naturel« bedarf es gar keiner Erziehung. Émile jedoch wird in allen Errungenschaften der Kultur seiner Zeit unterrichtet. Inwiefern kann da von einer natürlichen Erziehung die Rede sein? Darum, weil in ihr die totale Selbstbezogenheit des natürlichen Subjekts wiederhergestellt wird. Émile wird erzogen »einzig für sich selbst«.25 Und zwar wird durch das höchst künstliche Arrangement einer totalen Erziehungswelt Vorsorge getroffen, daß der Bruch der Natürlichkeit, der für die Menschheitsgeschichte charakteristisch ist, umgangen wird. (Fs) (notabene)

110a Die Natürlichkeit aber, die aus der Emanzipation und aus der »éducation naturelle« hervorgeht, ist in höherem Maße natürlich zu nennen als die des »homme naturel«. Der »état naturel« war ja nur dadurch möglich, daß die natürlichen Anlagen des Menschen gerade nicht zur Entfaltung kamen. Denn die Entfaltung war nur durch Sozialisierung und diese nur durch Denaturierung möglich. Nun aber ist der voll entfaltete Mensch das Ziel. Geben wir diesem die vorgeschichtliche Autarkie zurück, so ist er erst der wahre »homme naturel«. Denn in ihm wird das Ziel der Natur auf höhere Weise erreicht als beim anfänglichen »homme naturel«, jenes Ziel der Natur, das Rousseau bezeichnet als »sentiment de notre existence«.26 Also ein Ziel, das gerade nichts mit Teleologie zu tun hat, sondern im einfachen Selbstgenuß besteht, in der totalen fühlenden Rückbeziehung eines lebendigen Wesens auf sich selbst. Dieses »sentiment de l'existence« wird erst in der Kulturwelt durch die »éducation naturelle« zur höchsten Intensität gesteigert. Die höchste Intensität aber ist das Gewissen. Das Gewissen tritt als höhere Form der Selbstbezogenheit an die Stelle der ekstatischen und unnatürlichen Leidenschaft des Patriotismus, die das Handeln des »citoyen« motiviert. Im Gewissen kehrt der Mensch zu sich zurück, er wird wieder natürlich. Eine solche »éducation naturelle«, eine Erziehung, die die natürlichen Anlagen des Menschen entfaltet und auf das »sentiment de l'existence« zurückbezieht, ist überhaupt erst im »état civil« angebracht und möglich. Diesen Gedanken spricht Wolmar in der Nouvelle Héloïse< aus.27 Natur in diesem vollen Sinne ist ein Spätprodukt. Erst die bürgerliche Gesellschaft setzt sie als Subjektivität frei. Und es wird, wie Leo Strauss einmal bemerkt hat, in den Augen Rousseaus die höchste Rechtfertigung dieser Gesellschaft, daß sie es einem bestimmten Typ von Individuen erlaubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus ihr, der Gesellschaft, das heißt durch ein Leben an ihrem Rande zu genießen.28 (Fs) (notabene)

111a Ich möchte zum Abschluß nur noch kurz darauf hinweisen, daß die konterrevolutionäre Kritik des Vicomte de Bonald in der Kritik am Naturbegriff des 18. Jahrhunderts ihren Mittelpunkt hat. Mit dem ihm eigenen Blick für das Wesentliche bezeichnet er in seiner 1792 erschienenen >Théorie du pouvoir< die Gleichsetzung des Natürlichen mit dem Anfänglichen als das proton pseudos der revolutionären Naturtheorie, das so verschiedene Autoren wie Montesquieu, Holbach und Rousseau miteinander verbindet. Bonald hat noch einmal versucht, einen ideologischen Naturbegriff einzuführen, und vorgeschlagen, den anfänglichen Zustand als »état natif« vom »état naturel« zu unterscheiden. Der Indianer ist ein »homme natif«; Bossuet, Fénelon und Leibniz sind »hommes naturels«.29 (Fs)

112a Wenn Rousseau von der göttlichen Stimme spricht, die den Menschen aus dem »état naturel« herausruft, so hat diese Redeweise für Bonald keinen Sinn: Jene göttliche Stimme eben ist die Natur. Natur ist eine Abstraktion, ein »être de raison«, das weder Stimme noch Organ hat. Ihre Wirklichkeit ist eine rein rationale: der göttliche Plan. Inhalt dieses Plans aber ist die Selbsterhaltung alles Seienden. Repression ist natürlich, wenn sie im Dienste von Erhaltung steht. Die Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung kann nicht unnatürlich genannt werden. Deshalb ist die zivilisierteste Gesellschaft die natürlichste. Rousseaus »volonté générale« ist, richtig betrachtet, nichts anderes als die Natur der Erhaltungsordnung. Sie hat mit den Velleitäten der Subjektivität nichts zu tun. Es gibt auch bei Rousseau diesen bei ihm allerdings unspezifischen Gebrauch des Wortes Natur, im Sinne einer »Natur der Sache«. So heißt es im >Contrat social< an einer Stelle:

Wenn der Gesetzgeber sich über seinen Gegenstand täuscht, und ein Prinzip wählt, das verschieden von dem ist, das aus der Natur der Dinge hervorgeht,... dann wird der Staat nicht aufhören in Unruhe zu sein, bis er zerstört ist oder sich gewandelt hat und die unbesiegbare Natur ihre Herrschaft wieder aufgerichtet hat.30

113a Während die rousseausche Naturtheorie mit ihrem Pathos der Befreiung für die revolutionären Bewegungen bis zum Marxismus maßgebend wird, wird seine Sozialtheorie und ihr Begriff der »Natur der Sache« auf dem Wege über de Bonald bestimmend für die positivistische Theorie der Gesellschaft. (Fs)

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