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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 3; Krise d. Naturbegriffs (Grund 2): natura - gratia; desiderium naturale - Heil als Rechtsanspruch -> natura pura; finis naturalis - potentia oboedientialis - supernaturalis; Reformatoren (Luther), Paradies: Gerechtigkeit - N.; Bellarmin

Kurzinhalt: Erstens werden in der Antithese »natura-gratia« alle vorhergehenden, phänomenal ausgewiesenen Distinktionen eingeebnet:... Das System der »natura pura« wurde dann in der Auseinandersetzung mit Bajus

Textausschnitt: 91b Für den Gebrauch des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert innerhalb der Sozialtheorien aber scheint mir noch ein zweites, ebenfalls theologisches Motiv eine Rolle zu spielen, ein Motiv, das mit dem erstgenannten von Anfang an merkwürdig verschränkt ist. Ich nannte einleitend die großen Antithesen, in denen der Naturbegriff auftaucht und von denen her er seine jeweilige Bedeutung gewinnt. Ich habe dabei eine Antithese unerwähnt gelassen, die in der frühen Neuzeit an Bedeutung alle anderen übertraf, die Antithese »natura-gratia«, und später »naturale« und »supernaturale«. Diese Antithese vor allem ist es, die den sozialtheoretischen Naturbegriff des 18. Jahrhunderts vorbereitet. Ich möchte hier nicht auf den Ursprung des Begriffs des »supernaturale« eingehen. Er geht letzten Endes auf das ... [epekeina tes ousias] (jenseits des Wesens) Platons zurück.1 Was uns hier interessiert, sind nicht so sehr die Ursprünge als vielmehr die Folgen der neuen Antithese. In ihr nämlich erfährt der Naturbegriff eine tiefgreifende Wandlung. Und zwar in doppelter Weise:

92a Erstens werden in der Antithese »natura-gratia« alle vorhergehenden, phänomenal ausgewiesenen Distinktionen eingeebnet: Unter dem theologischen Naturbegriff wird alles subsumiert, was zuvor als Gegensatz zur Natur begriffen worden war. Alle humane Sittlichkeit wird als Reich der natürlichen und moralischen Tugenden den übernatürlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe entgegengesetzt. (Fs)

93a Alles menschliche Tun und Machen rückt hinsichtlich des nun maßgebenden Gegensatzes »natura-gratia« auf die Seite der Natur. Die menschliche »voluntas« wird hinsichtlich der Möglichkeit einer Transzendenz, die in der »Caritas« eröffnet wird, zur bloßen Natur, so wie schon bei Paulus die autonome menschliche Vernunft unter dem Begriff des »Fleisches« subsumiert worden war. (Fs)

93b Gewiß ist die Unterscheidung von Natur und Gnade in ihren Grundlagen so alt wie die christliche Theologie. Aber das ganze Mittelalter hindurch hält sich doch die platonische Lehre von der Seele als etwas Göttlichem, dessen Behandlung eher zur Theologie als zur Physik gehört, so bei Boetius, Cassiodor, Isidor von Sevilla, Hugo von St. Viktor. Thomas von Aquin unterscheidet die »natura intellectualis« von der »creatura naturalis« oder der »res naturalis«.2 (Wie überhaupt zu bemerken ist, daß der Terminus »naturalis« immer sehr viel spezifischer ist als der der »natura«.) Vor allem aber: Für den teleologischen Dynamismus der hochmittelalterlichen Philosophie und Theologie gibt es eine unmittelbare Finalität der menschlichen Natur auf das Ziel einer nur durch Gnade zu erreichenden Seligkeit. So heißt es im Boetiuskommentar des Thomas von Aquin:

Obgleich der Mensch von Natur auf das letzte Ziel hin geneigt ist, so kann er es doch nicht von Natur erreichen, sondern nur durch die Gnade..., und zwar wegen der Erhabenheit dieses Zieles.3

94a Und Thomas versucht hierfür sogar die Nikomachische Ethik heranzuziehen:

Das, was wir durch göttliche Hilfe können, ist uns nicht schlechthin unmöglich, nach dem Wort des Aristoteles: >Was wir durch Freunde können, können wir in gewisser Weise durch uns selbst<.4

94b Aber dieser Gedanke einer immanenten Teleologie, die doch wegen der Unendlichkeit des Telos nicht selbst imstande sein sollte, dieses Telos hervorzubringen, war natürlich durchaus unaristotelisch. Und unter Berufung auf Aristoteles haben die späteren Scholastiker, und zwar gerade die thomistischen, diesen Gedanken aufgegeben. So schreibt Sylvester von Ferrara:

Wenn Gott das natürliche Ziel wäre, das heißt das Ziel, zu dem die Natur strebt, andererseits aber nur auf übernatürliche Weise erreichbar, dann würde das bedeuten, daß die Natur ihr Subjekt auf etwas ausrichtete, das hervorzubringen diesem doch unmöglich wäre. Ein in allen Naturen vorhandenes Streben aber, das auf keine Weise von Natur erfüllbar wäre, würde in der Natur vergeblich vorkommen... Es ist sinnlos, daß etwas durch einen Naturtrieb - die einzige Form natürlicher Neigung - erstrebt wird und daß der Mensch dennoch zu diesem Ziel nicht durch irgendeine natürliche Fähigkeit gelangen kann, denn die Natur hat von sich her nur Neigungen innerhalb der Grenzen der Natur.5

95a Alle Thomisten des 16. Jahrhunderts zitieren in diesem Zusammenhang Aristoteles:
Wenn die Natur den Himmelskörpern die Neigung zur geradlinigen Bewegung gegeben hätte, hätte sie auch die Mittel zu einer solchen Bewegung gegeben.6

95b Das sich hier anmeldende Naturverständnis bewegt sich in der Richtung auf die cartesisch-spinozistische Definition der Substanz als das, was begriffen werden kann ohne den Begriff eines anderen. Ein spezifisch theologisches Motiv wirkt in der gleichen Richtung: Der Gedanke eines »desiderium naturale«, das in der Natur über diese hinausweist, würde, so folgern die Theologen des 16. Jahrhunderts, aus dem Heil einen Rechtsanspruch machen; die Gnade würde aufhören, Geschenk zu sein. Die Folgerung war, daß man der faktischen heilsgeschichtlichen Bestimmung des Menschen eine hypothetische, rein natürliche Bestimmung, einen »finis naturalis«, unterschob: Die folgenreiche Konstruktion einer »natura pura« entstand. Gott hätte, so ist die These, den Menschen auch »in puris naturalibus« erschaffen können. Die Heilsbestimmung ist hinsichtlich der menschlichen Natur bloß akzidentell. Die Hinordnung der Natur auf diese Bestimmung besteht nur in einer sogenannten »potentia oboedientialis«, einer passiven Fähigkeit, durch die göttliche Allmacht in eine solche neue Bestimmung hineingenommen zu werden. Und nun erst wird auch der Gebrauch des Wortes »supernaturalis« für diese Heilsbestimmung üblich. (Fs)

96a Das System der »natura pura« wurde dann in der Auseinandersetzung mit Bajus in der katholischen Theologie herrschend.7 Um der Gratuität der Gnade willen wird von den Theologen die Autonomie der Natur zu einem Postulat gemacht, demgegenüber die Gnade nur den Charakter eines »superadditum« hat. Es ist nicht zuletzt das Vordringen juristischer Kategorien in der Interpretation der Heilsgeschichte, die diese Entwicklung begünstigt. Der Gedanke, der Mensch könne angewiesen sein auf etwas, das notwendigerweise den Charakter des freien Geschenkes hat, tritt zurück. Entweder ist die Natur auf etwas angewiesen, dann besitzt sie einen einklagbaren Versorgungsanspruch. Oder sie besitzt diesen nicht, dann muß sie sich allenfalls auch selbst genügen können. Das ist die Logik, aus der die Idee des »status naturae purae« entspringt. (Fs) (notabene)

96b Übrigens folgen die Reformatoren genau der gleichen Logik in umgekehrter Richtung, wenn sie die paradiesische Verfassung des Menschen als »natürlich« bestimmen und ihren Geschenkcharakter ausdrücklich leugnen. So Luther im Genesiskommentar:
Wir sollten nicht behaupten, die Gerechtigkeit sei sozusagen ein Geschenk gewesen, das von außen, getrennt von der Natur des Menschen, zu ihm hinzugekommen sei: Sie war vielmehr etwas ganz Natürliches, so daß es die Natur Adams war, Gott zu lieben, Gott zu glauben, Gott zu erkennen usw. ... Das alles beweist, daß die ursprüngliche Gerechtigkeit zur Natur des Menschen gehörte; wenn sie also durch die Sünde verloren ging, dann ist klar, daß das Natürliche nicht intakt blieb, wie die Scholastiker spinnen.8

97a Die Idee der totalen Verderbtheit der menschlichen Natur durch den Sündenfall folgt hieraus. Dagegen fassen Theoretiker der »natura pura«, etwa Suarez oder Bellarmin, die Sünde als Verlust eben jener akzidentellen übernatürlichen Bestimmung und setzen den Zustand des nachparadiesischen Menschen, seine Mühsal, das Sterbenmüssen und so weiter, dem »status naturae purae« gleich, der auch nicht besser gewesen wäre: denn
der Zustand des Menschen nach dem Fall Adams würde sich von seinem reinen Naturzustand nicht mehr unterscheiden, als sich der Ausgeplünderte vom Nackten unterscheidet.9

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