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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 2; Zweideutigkeit des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert: N. als Bedürfnisstruktur d. Menschen u. als hypothetischer Anfangszustand; mechanische Naturdeutung: theologischer Ursprung (J. Buridan, causa finalis); Krise d. N-begriffs (Grund 1)

Kurzinhalt: In der Idee der Entelechie war jene Zweideutigkeit des Naturbegriffs als Anfang und als ein das Andere seiner selbst als »telos« Umgreifendes aufgehoben. Die Abkehr von der Idee der Entelechie ... Die mechanische Naturdeutung, später als gottlos ...

Textausschnitt: 88a Die Zweideutigkeit des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert läßt sich grob und schematisch so bestimmen: Natur ist einerseits jene individuelle, durch Selbsterhaltungstrieb primär bestimmte Vermögensausstattung und Bedürfnisstruktur des Menschen, die hervortritt, wenn der Mensch die Überformung der traditionellen christlichen Geschichtswelt abstreift. Natur ist andererseits ein hypothetischer, dieser Geschichte vorauf liegender Anfangszustand des Menschen. Je nach dem, ob die bisherige Geschichte als Entfernung von der anfänglichen Natur oder als innerhalb dieser verbleibend gedacht wird, erscheint die Emanzipation als Rückkehr zur Natur oder als Heraustreten aus ihr. Beide Betrachtungsweisen sind möglich, vor allem, wenn wir einen dritten Sinn des Wortes Natur hinnehmen: Natur als Totalzusammenhang der Erscheinungen. So unterscheidet Kant in den >Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft< »Natur in materieller Bedeutung« als

Inbegriff aller Dinge, sofern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können, worunter also das Ganze aller Erscheinungen, d. i. der Sinnenwelt, mit Ausschließung aller nichtsinnlichen Objekte, verstanden wird,

und »Natur in formaler Bedeutung als das erste innere Prinzip alles dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört«.1 (Fs)

89a Die bisherige Geschichte nun, als Geschichte der Repression verstanden, ist antinatürlich in dem Sinne, daß es die Natur in formaler Bedeutung ist, der Gewalt angetan wird. Insofern ist die Emanzipation Befreiung der Natur. Aber die gleiche Geschichte ist natürlich in dem Sinne, daß die Gewalt, die ein Wesen dem andern antut, ja keinen außernatürlichen Ursprung hat, sondern selbst das Gesetz der Natur in materieller Bedeutung ist, das Gesetz der Erfahrung und der Sinnenwelt, gerade insofern in ihr noch nicht eine Gesetzgebung aus Vernunft die die Natur ständig vergewaltigende Naturgesetzlichkeit abgelöst hat. Insofern ist Emanzipation Befreiung von der Natur. Das 18. Jahrhundert steckt in dieser Dialektik des Naturbegriffs und denkt sie infolgedessen noch nicht. (Fs)

90a Der Begriff scheint in eine beziehungslose Zweideutigkeit auseinanderzufallen. Zwei Gründe lassen sich für diesen Vorgang angeben; zwei Gründe, die freilich auf eine Weise zusammenhängen, die noch näher zu klären sein wird. Der erste Grund ist die Abkehr von der teleologischen Naturbetrachtung, von der aristotelischen Idee der Entelechie. Diese ist, nach dem Worte Bacons, »tamquam virgo Deo consecrata, quae nihil parit«.2 In der Idee der Entelechie war jene Zweideutigkeit des Naturbegriffs als Anfang und als ein das Andere seiner selbst als »telos« Umgreifendes aufgehoben. Die Abkehr von der Idee der Entelechie wird nun von Boyle und dem erwähnten Sturm als Abkehr vom Naturbegriff selbst verstanden. So etwa, wenn der »horror vacui« als Mystifikation eines mechanischen Prinzips entlarvt wird. Es gibt jene Natur nicht, die vor irgend etwas einen Horror oder zu irgend etwas eine Neigung hat. Die Welt ist für die Cartesianer ein aufgezogenes Uhrwerk, für dessen Ablauf es keines Archäus, keines hylarchischen Prinzips, keiner »Natur« bedarf, sondern nur eines Uhrmachers. So wird denn auch die Maschinentheorie der Welt als eine gottesfürchtige Theorie, als »vindicatio gloriae supremae numinis«3 betrachtet. Tatsächlich ist es denn auch gerade die christliche Theologie gewesen, die schon lange zuvor die klassische Entelechie ausgehöhlt hatte. Das Argument des Johannes Buridan gegen die »causa finalis«, ein Ziel könne nicht wirken, sondern nur ein zielsetzender Geist,4 dieses Argument findet sich schon bei Thomas von Aquin. Wenn dieser aus der teleologischen Struktur des Lebendigen einen Gottesbeweis macht, dann eben mit diesem Argument:

Die Dinge aber, die keine Erkenntnis besitzen, streben nach einem Ziel nur, wenn sie von einem erkennenden und intelligenten Wesen ins Ziel gelenkt werden wie der Pfeil vom Schützen.5

91a So wird alle Teleologie letzten Endes aus der Welt herausbefördert und in den göttlichen Geist verlegt. Damit aber wird die Welt zur Maschine. Die mechanische Naturdeutung, später als gottlos gescholten, ist selbst theologischen Ursprungs. Sie geht ja dann auch bis ins 18. Jahrhundert Hand in Hand mit einer dem Mittelalter in dieser Form unbekannten Universalteleologie, das heißt dem Versuch, die zweckmäßige - und zwar auf den Menschen als Endzweckbezogene - Konstruktion dieser Weltmaschine aufzuweisen. (Fs) (notabene)

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