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Autor: Spaemann, Robert

Buch: Rousseau - Mensch oder Bürger

Titel: Rousseau - Mensch oder Bürger

Stichwort: Natur 1, Vorgeschichte; N.: Klärung aus dem jeweiligen Gegenbegriff (nomos, techne, voluntas); Sophistik (nomos - physis) - Platon (kalón als das agatón); Krise d. N.-begriffs. Hume, Boyle, Sturm; Natur als Emanzipationsbegriff

Kurzinhalt: Im 17. und 18. Jahrhundert wird die Vieldeutigkeit des Naturbegriffs ausdrücklich zum Problem. David Hume nennt »Natur« ein »vages unbestimmtes Wort... Aber die gleiche Bewegung, die sich als Emanzipation der Natur begreift, wird von anderen Autoren ...

Textausschnitt: 3. Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18.Jahrhundert

85a Vieldeutig ist der Naturbegriff immer gewesen. Seit der antiken Antithese von physis und nomos hatte er eine spezifische Bedeutung fast stets aus dem jeweiligen Gegenbegriff gewonnen, sei es der Begriff der techne gewesen oder der des Zwanges (in der aristotelischen Entgegensetzung von natürlicher und gewaltsamer Bewegung), sei es bei Cicero und im Mittelalter in der Antithese »natura-voluntas« der Begriff des freien Willensaktes.1 Bei Thomas von Aquin wird im Willen selbst noch einmal eine »natura« statuiert und vom »liberum arbitrium« abgehoben: das formelle Streben nach dem »bonum« beziehungsweise, subjektiv gewendet, der »beatitudo«, das nach Augustin wie Thomas von Aquin den Willen als Willen allererst konstituiert, wird vom eigentlich freien Willensakt als dessen Ermöglichung unterschieden.2 Die Vieldeutigkeit des Naturbegriffs wird jedoch bis zum 17. Jahrhundert nicht eigentlich zum Problem. Sie stört nämlich die Verständigung nicht. Und zwar stört sie diese nicht, solange das Wort »Natur« in den verschiedenen Gegensatzpaaren jeweils eine analoge Funktion erfüllt. Die Eindeutigkeit des Naturbegriffs wird durch die Eindeutigkeit seines Gegensatzes gewährleistet. Immer bezeichnet Natur ein vom nomos, von der techne, von der Freiheit nicht Gesetztes; immer gleichzeitig aber eine vom menschlichen Lebenszusammenhang vorausgesetzte Bedingung seiner Möglichkeit. Und fast immer ist der Begriff der Natur schon unausdrücklich dialektisch in dem Sinne, daß er sein eigenes Gegenteil mit umgreift, so wie die Wahrheit den Schein. Gerade dort, wo, wie in der Sophistik, die physis dem nomos in kritischer und emanzipatorischer Absicht entgegengesetzt wird, da wird dem nomos ein ihn legitimierender Ursprung jenseits der physis abgesprochen: Die Entlarvung besteht gerade darin, den natürlichen Ursprung des naturwidrigen nomos aufzuweisen. Und Platons Gegenkritik besteht nicht darin, dem nomos einen nichtphysischen Ursprung zu vindizieren, sondern er bildet den Begriff der physis selbst so um, daß der nomos als die Erfüllung der teleologisch gedachten Natur des Menschen erscheint, das kalón als das agatón, das Edle als das zugleich Zuträgliche. (Fs) (notabene)

86a Im 17. und 18. Jahrhundert wird die Vieldeutigkeit des Naturbegriffs ausdrücklich zum Problem. David Hume nennt »Natur« ein »vages unbestimmtes Wort, welcher die Menge alles zuschreibt«.3 Robert Boyle will das Wort überhaupt abschaffen und durch »mechanismus« ersetzen.4 Johann Christoph Sturm schreibt in seiner Schrift >De naturae agentis superstitioso conceptu<: »Es gibt in der gesamten Naturphilosophie wohl kaum ein Wort, das zweideutiger und äquivoker wäre als jenes, das ihr selbst den Namen gegeben hat, nämlich das Wort >physis<, das die Lateiner mit >Natur< wiedergegeben haben.«5 Und im Rückblick auf die Französische Revolution und ihre theoretischen Grundlagen schreibt 100 Jahre später der Philosoph der Restauration de Bonald die Irrtümer der revolutionären Theorie der Zweideutigkeit der Worte »Natur« und »natürlich« zu.6 (Fs) (notabene)

87a Eine Darstellung des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert müßte dieser Zweideutigkeit nachfragen, oder genauer dem Grund, warum sie plötzlich zum Problem wird. Denn dies ist ja doch auffallend: Die einzigartige Wendung zur Natur in der Weise der Naturwissenschaften ist es, durch die der Begriff Natur selbst in Frage gestellt wird, so bei Boyle, so bei Sturm, so bei Hume, so dann bei Voltaire, der in seinem >Dialogue entre le philosophe et la nature< die Natur sagen läßt: »Man hat mir einen Namen gegeben, der mir nicht zukommt: Man nennt mich Natur, und ich bin doch ganz Kunst.«7 (Fs) (notabene)

87b Und dies muß ferner auffallen: Natur war in der Sophistik ein Emanzipationsbegriff. Dies ist er auch im 18. Jahrhundert. Die neue Ordnung der Emanzipation aus den alteuropäischen Strukturen wird vom Baron Holbach als »Systeme de la nature« konstruiert, und der Abbé Morelly entwirft für sie einen »code de la nature«. Aber die gleiche Bewegung, die sich als Emanzipation der Natur begreift, wird von anderen Autoren und manchmal sogar von denselben als »Herausgehen aus der Natur« bestimmt, so etwa wenn Kant schreibt, der Mensch solle aus dem ethischen Naturzustande herausgehen, um Glied eines ethischen Gemeinwesens zu werden.8 Von der gleichen Emanzipation aus der Natur aber sagt Kant an anderer Stelle, die Natur habe sie gewollt, sie sei die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur.9 Schiller spricht vom Übergang vom »Naturstaat« zum »Vernunftstaat«.10 Und noch Marx nennt jene feudalen Bindungen, aus denen die bürgerliche Revolution befreit, »naturwüchsige Verhältnisse«.11 (Fs)

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