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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 11; Beziehung als eigentlich Wirkliches; Omne quod recipitur secundum modum recipientis recipitur; Wirklichkeit als Beziehung

Kurzinhalt: Jede Person ist für sich wirklich, weil sie für sich das Ganze der Beziehung realisiert, in der sie a priori zu allen anderen Personen steht: die Beziehung der Anerkennung.

Textausschnitt: VIII. Die Beziehung als eigentlich Wirkliches

31a Darin liegt nun ein Paradox. Bisher schien es so, daß das ontos on, wie die Griechen sagten, also das wirklich Seiende, dasjenige ist, was etwas als es selbst und für sich selbst ist, also jenseits seiner Gegenständlichkeit für anderes. Das Paradigma für solche Jenseitigkeit war unsere Selbsterfahrung, also die Erfahrung, daß wir selbst jemand sind jenseits alles dessen, als was wir anderen erscheinen. Nun hat es schon hiermit einen Haken. Es ist nämlich keineswegs so, daß wir selbst immer am besten wissen, wer wir sind. Andere können und müssen uns häufig über uns selbst aufklären, angefangen damit, daß sie uns von unserer Geburt erzählen, daß sie uns an Ereignisse erinnern, die wir selbst erlebt, aber vergessen haben, bis hin zu Deutungen unseres Verhaltens, in denen wir nicht umhin können, uns wieder zu erkennen, obwohl es uns vielleicht unangenehm ist. Vor allem aber: Jenes Selbstbewußtsein, das es uns erlaubt, uns von allem zu distanzieren, als was wir anderen erscheinen, ist selbst nicht denkbar ohne eben jene anderen. Erst durch andere Personen lernen wir, unser eigenes Personsein zu aktualisieren. Erst mit Hilfe der Sprache entsteht Selbstbewußtsein, und erst durch die Anerkennung als „jemand" durch andere „jemande" gewinnen wir elementare Selbstachtung bzw. jene natürliche und fundamentale Selbstliebe, ohne die es keine Liebe geben kann. Das heißt, nur durch den Blick anderer werden wir uns selbst sichtbar und wirklich. Das Wirkliche ist also nicht das Beziehungslose, es ist nicht das aus jeder Beziehung herausgelöste, isolierte Glied einer Beziehung. Das Wirkliche ist die Beziehung selbst. Und das Einzigartige von Personen liegt darin, daß sie nicht nur in Beziehung stehen, sondern die Beziehung realisieren und sich deshalb selbst relativieren und mit den Augen des anderen sehen können - wenigstens versuchsweise. Diese Selbstrelativierung und Selbsttranszendenz ist es, die jede Person zu etwas Absolutem macht. Jede Person ist für sich wirklich, weil sie für sich das Ganze der Beziehung realisiert, in der sie a priori zu allen anderen Personen steht: die Beziehung der Anerkennung. Die Beziehung selbst ist das Wirkliche. Ich erlebe etwas so und so, es ist möglich, daß ich mich irre, daß meine Perspektive die Realität verzerrt und anderen nicht gerecht wird. Das ändert nichts daran, daß das Erleben selbst, daß also die Verzerrung der Wirklichkeit ihrerseits wirklich ist. Nun verändert aber jede Rezeption das Rezipierte. „Omne quod recipitur secundum modum recipientis recipitur", sagt ein scholastisches Adagium, „Alles, was aufgefaßt wird, wird auf die Weise des Auffassenden aufgefaßt". Aber das Wort „verändert" ist eigentlich unangemessen. Denn es suggeriert, eine Sache sähe vor ihrem Wahrgenommenwerden anders aus als in der Auffassung des Wahrnehmenden. Das aber setzt voraus, die Sache sähe vor aller Wahrnehmung und unabhängig von ihr überhaupt irgendwie aus. Das Wort „aussehen" setzt schon den Blick von jemandem voraus, für den etwas so oder so aussieht. Es hat keinen Sinn zu sagen, unabhängig von der Betrachtung durch irgendwelche Subjekte sieht die Sache so oder anders aus. Aussehen ist wesentlich auf Sehen bezogen. So hätte es keinen Sinn, von Gestalten, von Körpern, von Mustern zu sprechen, wenn es nicht so etwas wie Gestaltwahrnehmung gäbe. Gestalten, aber auch die Muster auf der Oberfläche von Reptilien, Fischen und Vögeln, denen Adolf Portmann solche Aufmerksamkeit schenkte, sind daseinsrelativ auf mögliche Wahrnehmung. Es hat keinen Sinn zu sagen, es gäbe sie auch jenseits und unabhängig davon. Umgekehrt ist aber auch die Sinnesorganisation von Lebewesen darauf hingeordnet, etwas als Gestalt wahrzunehmen. So wenig wie ich das Gesehene ohne Sehen beschreiben kann, so wenig kann ich Sehen ohne Gesehenes beschreiben. (Fs) (notabene)

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