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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 10; klassische Trichotomie: Sein, Leben, Denken; Heidegger: Zuhandene - Vorhandene; A.N. Whitehead

Kurzinhalt: ... Sein unterhalb des Lebens? Wir wissen nicht, was nicht bewußtes Leben ist, so wenig wir wissen, was nicht bewußter Hunger ist. Es ist bewußter Hunger abzüglich des Bewußtseins.

Textausschnitt: VII. Das Mitsein der materiellen Welt

29b In diesem letzten Sinne wirklich können uns nur Personen werden. Aber ich habe darauf hingewiesen, daß das Sein, die Wirklichkeit von Personen nicht Bewußtsein, sondern Leben ist und daß uns deshalb nicht nur alles Bewußte, sondern alles Lebendige als wirklich gelten muß. Die cartesische Zweiteilung der Welt in Bewußtsein und Materie, die durch Ausdehnung definiert ist, diese Zweiteilung hat zur Entwirklichung der Wirklichkeit geführt, weil in ihr das Zwischenglied verschwunden ist, das seit Platon das Reden über Wirklichkeit bestimmte: Leben. Sein, Leben, Denken war die klassische Trichotomie. Leben aber war das eigentliche Paradigma des Seins. Bewußtsein galt als Steigerung von Leben. „Wer nicht erkennt," schreibt Thomas von Aquin, „der lebt nicht vollkommen, sondern hat nur ein halbes Leben". Bewußtes Leben ist volles Leben, also volle Wirklichkeit. Unbewußtes Leben behält ein Moment von Unbestimmtheit, so wie unbewußte Gefühle, von denen es Sinn hat zu sagen, sie seien weniger wirklich als deutlich bewußte und sogar ausgesprochene. Es gibt Grade der Wirklichkeit. (Fs)

29c Wie aber verhält es sich mit dem Sein unterhalb des Lebens? Solches Sein kommt zunächst innerhalb des Lebenszusammenhangs vor, als Umwelt, als Nahrung, als Teil unserer Nahrung, als Material für die Herstellung einer Welt des „Zuhandenen", wie Heidegger es genannt hat. Und es kommt vor als Gegenstand der Physik und Chemie. Hat es Sinn, von einer Wirklichkeit dieser unbelebten Materie jenseits dessen zu sprechen, als was sie sich uns zeigt, also jenseits ihrer Gegenständlichkeit? Oder ist die physikalische Wirklichkeit nichts anderes als potentielle Realität, die ihre Wirklichkeit erst gewinnt, indem wir sie erkennen? Heideggers Sein und Zeit kennt dieses Jenseits nur als defiziente Form von Zuhandenheit. Was aus allen Lebensbezügen herausgefallen ist, ist das „nur noch Vorhandene". Die Kategorie des Mitseins scheidet hier aus. Aber ist das berechtigt? Das archaische Denken betrachtet die unbelebte Welt immer auch anthropomorph, also nach Analogie der belebten. Wasser und Feuer werden in den Psalmen zum Lob des Schöpfers aufgefordert, der hl. Franziskus spricht von Brüdern und Schwestern, wenn er die Elemente anspricht. Und in der Liturgie der katholischen Kirche wird in der Osternacht bei der Weihe des Taufwassers eine lange Rede gesungen, in der das Wasser angeredet wird. Ist das ein infantiles Relikt? Es ist ein solches Relikt, wenn wir uns entschließen, die unbelebte Materie für unwirklich zu halten, also für etwas, das darin aufgeht, für Lebewesen zuhanden oder aber Gegenstand der Wissenschaft zu sein. Wenn wir dem materiellen Sein Wirklichkeit in dem hier entfalteten Sinn zusprechen, dann sprechen wir ihm Mitsein zu und müssen auch ihm gegenüber neben der anthropozentrischen Rede die anthropomorphe als die wesentlichere zulassen, ja sogar verlangen. Übrigens geht es in dieser Rede immer um Elemente, um natürliche Dinge, nicht um Artefakte. Artefakte sind Objekte, nicht Mitgeschöpfe. Es ist nicht irgendwie ein Auto zu sein, darum kann das Auto Gott nicht loben. Der Mensch kann höchstens dafür danken. (Fs)

30a Der wohl bedeutendste Metaphysiker unseres zu Ende gegangenen Jahrhunderts, der englische Mathematiker und Physiker Alfred North Whitehead, hat auf höchstem Abstraktionsniveau eine solche anthropomorphe Redeweise entwickelt. Er begnügte sich nicht mit den unbewußten und unfreiwilligen Anthropomorphismen, die wir jederzeit anwenden, wenn wir von Dingen, von Identität, von Ursachen, von Möglichkeit, von Bewegung oder von Trägheit sprechen, das heißt also, wenn wir überhaupt sprechen. Er wußte, daß wir nur per analogiam sprechen können, wenn es sich um außermenschliche Entitäten handelt, sei es um Tiere, sei es um Moleküle, um Atome, um Elektronen oder um Quanten. Je weiter von uns weg, um so weniger können wir sagen, was das andere Glied der Analogie an sich selbst ist. Aber schon die Tatsache, daß wir von einem „an sich selbst" sprechen, ist ein Beispiel für analoges Reden. Wir wissen schon nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wie es ist, ein Elementarteilchen zu sein, wissen wir noch weniger. Aber Whitehead geht davon aus, daß es irgendwie sein muß, falls wir berechtigt sind von Wirklichkeit zu sprechen. Denn Wirklichkeit ist nie nur Objektivität für Subjekte und nie bloß inhaltslose Subjektivität. Wirklich nennen wir etwas nur, wenn es eine, wenn auch noch so rudimentäre Art von Subjektivität hat, und wenn diese Subjektivität einen objektiven Gehalt hat, wenn sie etwas „erlebt". Ausdrücke wie „Tendenz", „Erfüllung", ja sogar „Freude" mit Bezug auf die elementaren wirklichen Entitäten oder Ereignisse, die actual entities, wie Whitehead sagt, müssen natürlich so verstanden werden, daß alles im engeren Sinne Psychologische aus ihnen ferngehalten wird, alles, was wir mit bildhaften Vorstellungen füllen können. Wir wissen nicht, was nicht bewußtes Leben ist, so wenig wir wissen, was nicht bewußter Hunger ist. Es ist bewußter Hunger abzüglich des Bewußtseins. In einem ähnlichen abstrakten und formalisierten Sinne hatte aber schon Leibniz den Monaden der untersten Art „Perzeptionen" zugesprochen und diese unterschieden von bewußten „Apperzeptionen". Was heißt das? Apperzeptionen sind erlebte Einwirkungen. Aber was überhaupt Einwirkungen von etwas auf etwas sind, können wir nur denken, wenn wir von erlebten Eindrücken ausgehen und dann das Erleben abziehen. Wenn wir unbelebtem Seienden Wirklichkeit zusprechen wollen, dann können wir das nur, indem wir das Sein dieses Seienden als etwas dem Leben Ähnliches bestimmen, von dem wir bestimmte für Leben charakteristische Phänomene wie den Stoffwechsel abziehen, so wie wir Leben verstehen müssen als bewußtes Leben, von dem wir das Bewußtsein abziehen. Wirkliches Sein ist Mitsein oder es ist nicht wirklich. (Fs)

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