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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 3; Wirklichkeit als gemeinsame Welt (Heraklit); Leibniz (Monade) - Thomas (Engel); cogito, sum (Subjektivität als objektive Wirklichkeit; Bsp.: Patient Schmerzen); interner - metaphysischer Realismus

Kurzinhalt: Die Situation, wo ein seiner selbst bewußtes Subjekt sich als Gegenstand des Wissens anderer weiß, ist kein ... Ausnahmefall, der nicht als Modell für unser Verhältnis zur Wirklichkeit dienen kann, sondern sie ist das Paradigma unseres Wirklichkeits...

Textausschnitt: II. Die wirkliche Welt ist die gemeinsame Welt

15b Aber was heißt hier: „wirklich"? Wann ist etwas nicht geträumt? Heraklit sagte: „Im Traum hat jeder seine eigene Welt. Im Wachen haben wir eine einzige und gemeinsame Welt". Wenn ich mit einem Freund eine Bergwanderung mache und unterwegs bei einem Hüttenwirt einkehre, und es stellt sich später im Gespräch mit dem Freund heraus, daß er mit mir eine solche Wanderung nicht gemacht hat, und im Gespräch mit dem Hüttenwirt, daß bei ihm niemand eingekehrt ist, der mir oder meinem Freund ähnlich sah, dann muß ich die Wanderung wohl geträumt haben. Diesem negativen Kriterium entspricht indessen kein positives. Denn die positive Auskunft der beiden könnte ja ihrerseits wieder Teil des Traumes sein. Noch unwahrscheinlicher ist es, daß Freund und Hüttenwirt mit mir das Entsprechende zu dem erlebt haben, was ich mit ihnen erlebte, aber daß sie dieses Erlebte ihrerseits geträumt haben. Diesen Fall schließen wir von vorneherein wegen Unwahrscheinlichkeit aus, es sei denn, wir seien Anhänger von Leibniz' Theorie der prästabilierten Harmonie, wonach alle wirklichen Wesen, alle Monaden, fensterlos sind und nur in der Immanenz ihrer privaten Vorstellungen leben, aber da Gott diese inneren Programme aller Monaden vollkommen aufeinander abgestimmt hat - denn er ist es, der die Programme gemacht hat -, macht es keinen Unterschied, ob wir in diesem Zusammenhang von Traum oder Wirklichkeit sprechen. Vollständig koordinierte Träume sind von einer Wirklichkeit füreinander transparenter Wesen nicht unterscheidbar. Übrigens hat Leibniz diese Theorie direkt abgeschrieben von der Engellehre des hl. Thomas von Aquin. Thomas fragt sich, wie Engel etwas wissen können, was außerhalb ihrer passiert, und er sagt genau dies: Sie haben ein von Gott eingestiftetes Programm, das entsprechend der Wirklichkeit abläuft. Es handelt sich also um eine Übertragung der klassischen Engellehre auf jedes bewußte Wesen. (Fs)

16a Die wirkliche Welt, so sagte ich, ist die gemeinsame Welt. Das kann mißverstanden werden. Es kann so verstanden werden, als sei nur dasjenige wirklich, was von allen als wirklich erlebt und anerkannt wird. Das kann nicht sein. Denn es gibt bekanntlich Menschen, die vor der Wirklichkeit ihre Augen verschließen. Und es gibt, zum Beispiel in der Astrophysik, kontroverse Auffassungen über das, was es gibt und nicht gibt. Irgendwann entsteht vielleicht aufgrund neuer Beweise ein Konsens. Aber wir würden doch nicht sagen, daß die Wirklichkeit erst mit dem Konsens über sie entsteht. Nicht faktischer Konsens, sondern universelle Konsensfähigkeit ist charakteristisch für wahre Aussagen über das Wirkliche. Und wir halten etwas auch nicht deshalb für wahr, weil wir es für konsensfähig halten, sondern wir halten es für konsensfähig weil es wahr ist, also weil zum Beispiel ein Satz einer Wirklichkeit entspricht. Von neuem entgleitet uns also, was wir mit „wirklich" meinen, bzw. was wir damit ausschließen wollen. (Fs)

16b Ausschließen wollen wir zunächst den Traum und die Einbildung, also jene Seinsweise einer Sache, die sich nur endogen, also als Idiosynkrasie dessen erklären läßt, der die Sache oder den Sachverhalt vorstellt, also dasjenige, dessen Sein in seinem Objektsein aufgeht. Bloße Objekte sind auch dann, wenn über sie Konsens besteht, nicht wirklich. (Fs)

16c Aber geht diese Behauptung nicht zu weit? Ich sagte, etwas sei wirklich, wenn es nicht für einige, sondern für alle objektiv ist. Und nun sage ich, es sei nicht wirklich, wenn es überhaupt nur objektiv ist, also wenn sein Sein nur besteht im Objektsein für Subjekte. Ich will erklären, was ich meine:

17a Stellen wir uns einen Menschen vor, der auf dem Sterbebett liegt. Er ist unfähig, noch irgendwelche Äußerungen von sich zu geben, die auf das schließen lassen, was in ihm vorgeht. Um ihn herum steht ein Ärztekonsortium. Aufgrund des Erscheinungsbildes und der medizinischen Meßdaten sind sich die Ärzte in der Überzeugung einig, daß der Patient keine Schmerzen hat und daß er nicht mehr hört, was um ihn herum gesprochen wird. Der Patient hat indessen wohl Schmerzen, und er hört auch, was die Ärzte über ihn sagen. Er weiß also, daß sie sich irren, aber er kann das nicht äußern, ehe er stirbt. Nehmen wir an, der Fall dieses Patienten beschäftige weiterhin die medizinische Wissenschaft. Die Daten werden mehrfach neu analysiert, aber am Ende kommt die scientific community zu dem Schluß, der Mensch sei tatsächlich nicht mehr imstande gewesen zu hören und Schmerzen zu empfinden zu dem Zeitpunkt, als das Konsortium sich mit ihm befaßte. Unter den lebenden Menschen und insbesondere den Wissenschaftlern herrscht also einstimmiger Konsens. Aber es ist ein Konsens über das Falsche. Denn was wirklich stattfand, wußte allein derjenige, der jetzt nicht mehr lebt. Es gibt also die Wahrheit, aber niemand weiß sie mehr. (Fs)

17b Man könnte einwenden: Fühlen und Hören sind etwas Subjektives, aber keine objektive Wirklichkeit. Aber ein solcher Einwand spielt mit dem Begriff des Subjektiven, so als sei das Subjektive nur relativ und irgendwie weniger wirklich. Schmerzen empfinden und Hören sind subjektive Ereignisse. Aber sie sind zugleich streng objektiv und absolut in dem Sinne, daß sie zwar nur von einem Menschen erlebt werden, daß die Tatsache dieses Erlebens aber eine Wirklichkeit ist, die für das Urteil aller Menschen verbindlich ist, die überhaupt darüber urteilen. Daß ich Schmerzen habe, kann zwar nur ich mit letzter Sicherheit wissen, aber das heißt nicht, daß es nur wahr für mich wäre. Wenn jemand sagen würde: „Ich erlebe dich anders, als du dich erlebst. F Was fügt denn dieses „sum", dieses „ich bin", dem „cogito", der Feststellung „ich denke", hinzu? Es fügt hinzu, daß mein „ich denke" nicht nur ein „ich denke, daß ich denke, daß ich denke" und also nur für mich wahr ist, sondern daß diese meine Subjektivität eine objektive Wirklichkeit ist ür mich hast du keine Schmerzen", so würde ich ihm antworten: „Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie du oder sonst jemand mich erlebt oder welche wissenschaftlichen Feststellungen jemand über mich trifft. Die Wahrheit über meine Schmerzen kann nur ich wissen. Aber diese Wahrheit ist deshalb nicht eine Wahrheit nur für mich, sondern für jeden". (Fs)

17c Das ist übrigens die Bedeutung des „sum" im cartesischen „cogito, sum". Was fügt denn dieses „sum", dieses „ich bin", dem „cogito", der Feststellung „ich denke", hinzu? Es fügt hinzu, daß mein „ich denke" nicht nur ein „ich denke, daß ich denke, daß ich denke" und also nur für mich wahr ist, sondern daß diese meine Subjektivität eine objektive Wirklichkeit ist - und das meinen wir mit Personen: Eine objektive Wirklichkeit, die für jedes wahre Urteil maßgebend ist. (Fs)S (notabene)

18a Diese Unterscheidung zwischen dem „ich denke" und dem „ich bin" hat allerdings nur Sinn, wenn der Raum der Wirklichkeit größer ist als der Raum meines Bewußtseins. Und das ist er nur, wenn es noch andere Wesen gibt, für die es wahr ist, daß ich Bewußtsein habe. Wenn es nur meine Welt gäbe, dann könnte man diesen Satz streichen. Dann hätte es auch keinen Sinn, darüber nachzudenken, denn dann wäre alles so, wie es mir scheint, weil es gar nichts von außerhalb gibt. Dann ist nur das der Fall, von dem ich erlebe, daß es der Fall ist. Wenn es aber noch andere gibt, dann gilt nicht das gleiche. (Fs) (notabene)

18b Man könnte einwenden, daß ich hier einen Grenz- und Ausnahmefall einführe, einen Fall, in dem das Objekt, über das wir uns verständigen, selbst ein Bewußtseinssubjekt ist. Normalerweise sei Wirklichkeit gleichbedeutend mit Objektivität. Objekte würden als Objekte gewußt, erlebt, beobachtet. Natürlich seien sie nicht das, als was ein Einzelner sie erlebt. Sie sind gemeinsame Gegenstände, die jeder von einer anderen Seite sieht. Aber diese Perspektivität kann selbst wieder von uns reflektiert werden und in den Begriff der Sache eingehen. Die Wirklichkeit ist dann Gegenstand eines unendlichen Prozesses der Forschung. Aber es hat, so ist die Meinung, keinen Sinn von einer Wirklichkeit jenseits jeder möglichen Gegenständlichkeit zu sprechen. Man nennt diese Position gelegentlich „internen Realismus" im Gegensatz zum „metaphysischen Realismus". (Fs)

18c Im Bezug auf andere Personen, mit denen wir über die Wirklichkeit sprechen, sind wir allerdings unvermeidlich metaphysische Realisten - insbesondere dann, wenn wir uns klarmachen, daß wir selbst ja die anderen der anderen sind. Und wir selbst können nicht im Ernst denken, daß wir in der Gegenständlichkeit für andere aufgehen. Die Wirklichkeit meiner Freude oder meines Schmerzes ist zwar etwas, worüber andere wissen und sprechen können, aber sie bleibt immer meine Freude und mein Schmerz -jenseits alles dessen, was von anderen darüber jemals gewußt werden kann. Ich habe darüber einmal ein Gespräch mit Hilary Putnam gehabt, der, glaube ich, der Erfinder der Unterscheidung von „metaphysischem Realismus" und „internem Realismus" ist und habe ihm dieses Beispiel vor Augen gestellt, in dem ich das Objekt des Redens anderer bin. Und ich weiß ja in einem absoluten Sinne, ob das wahr ist oder nicht. Putnam sagte, dies sei ein Ausnahmefall, da gelte das nicht. Meine These ist nun: Dies ist kein Ausnahmefall, sondern der paradigmatische Fall, an dem wir überhaupt lernen, was Erkenntnis ist. Die Situation, wo ein seiner selbst bewußtes Subjekt sich als Gegenstand des Wissens anderer weiß, ist kein Grenz- oder Ausnahmefall, der nicht als Modell für unser Verhältnis zur Wirklichkeit dienen kann, sondern sie ist das Paradigma unseres Wirklichkeitsverhältnisses und unseres normalen Begriffs von Wahrheit. (Fs)

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