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Autor: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Buch: Nissing, Hanns-Gregor (Hrsg.)

Titel: Grundvollzüge der PersonDimensionen des Menschseins bei Robert Spaemann

Stichwort: Anthropomorphismus 1; fundementale Unterscheidung: Sein - Schein; virtuelle Realität (Eleaten; Hume); kybernetische Konstruktion

Kurzinhalt: Die Unterscheidung von Sein und Schein ist die erste und fundamentalste Unterscheidung, mit der die Philosophie beginnt... wenn Schein Sein ist, dann ist auch Sein nichts als Schein... Hume ... „We never advance one step beyond ourselves".

Textausschnitt: Wirklichkeit als Anthropomorphismus
Robert Spaemann

13a Als wir Kinder waren, gab es einen Augenblick, wo wir, wenn uns eine Geschichte erzählt wurde, die Frage stellten: „War das mal wirklich?" Wir erwarteten auf diese Frage eine schlichte Antwort, also nicht eine Antwort, die den Umfang des Begriffs „wirklich" so lange dehnte, bis auch Märchen und Träume darunter subsumiert werden konnten. Träume waren ja gerade das, was wir mit unserer kindlichen Frage ausschließen wollten. Wer nach Wirklichkeit fragt, will immer etwas ausschließen. „Wirklich" ist ein Begriff, der der Unterscheidung dient. Wirklichkeit ist ja nicht ein Merkmal, das zu dem, was es gibt, noch etwas hinzufügt. Existenz, so schreibt Immanuel Kant, „ist kein reales Prädikat". Das Wirkliche unterscheidet sich vom Unwirklichen, und wenn wir wissen wollen, was jemand meint, wenn er nach dem fragt, was wirklich ist, müssen wir wissen, was er als unwirklich ausschließen will. Das Ausgeschlossene kann viele Namen haben: Traum, Fiktion, Lüge, Schein, Einbildung, Konstrukt, virtuelle Realität usw. Die Unterscheidung von Sein und Schein ist die erste und fundamentalste Unterscheidung, mit der die Philosophie beginnt. Allerdings erhob sich auch schon in den Anfängen der Philosophie, bei den Eleaten, Widerspruch gegen diese Unterscheidung. Deren Argument war einfach: Das Nicht-Wirkliche, also das Nicht-Seiende ist nicht, per definitionem. Also kann Sein keinen Gegensatz haben. Es gibt nicht das, was es nicht gibt. Der Traum ist ebenso eine Wirklichkeit wie das Wachen, und das Geträumte ebenso wie das im Wachen Erlebte. Was immer die virtuelle Realität von der nichtvirtuellen unterscheiden mag, sie heißt schließlich ebenso wie diese „Realität". Ja, haben wir denn überhaupt etwas anderes als virtuelle Realität? Mit dieser Verblüffungsfrage werden wir heute immer häufiger konfrontiert. Mit fundamentalen Distinktionen verhält es sich aber so: Wenn die eine Seite verschwindet, verschwindet auch die andere. Wenn es keinen Schein gibt, wenn Schein Sein ist, dann ist auch Sein nichts als Schein. „Esse est percipi", sagte Berkeley. Und David Hume: „We never advance one step beyond ourselves". Wenn wir etwas erleben, dann ist es eben etwas von uns Erlebtes. Es spielt sich in uns ab, es ist unser Konstrukt. Falls es irgendwie von außen verursacht ist, können wir das nicht wissen. Ja sogar der Gedanke eines Außen ist wiederum nur ein Gedanke, der seine Metaphorik uns bekannten räumlichen Verhältnissen entleiht. Und auch der Gedanke eines anderen unserer selbst, der Gedanke von etwas, was jenseits unseres Denkens ist, bleibt doch unser Gedanke. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts hat diese Art von Reflexion bis zum Exzeß durchgespielt. (Fs)

14a Die Entwicklung der Technik am Ende des zweiten Jahrtausends vollzieht diese Reflexion nur in der Praxis nach. Die technische Simulation verdrängt nicht mehr nur die Wirklichkeit, sie gibt vor, deren Wesen zu enthüllen. Die kybernetischen Konstrukte ahmen nicht mehr nur das Lebendige nach, sie beanspruchen uns zu erklären, was Leben ist. Es ist nichts als diese Simulation. Onanie, Cybersex ist nicht mehr bloß Ersatzbefriedigung. Es tendiert dahin, sich als die Sache selbst zu präsentieren. „We never advance one step beyond ourselves". Zwar sind wir so konstruiert, daß wir den anderen zu unserem Glück brauchen. Aber wie für jede funktionale Interpretation, so gilt auch für diese: Sie eröffnet den Spielraum für funktionale Äquivalente. Eine Simulation des anderen tut es auch. Wenn sie perfekt ist, ist sie der andere. (Fs)

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