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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Autobiographische Reflexionen

Titel: Autobiographische Reflexionen

Stichwort: Husserl, William James, Plato, metaxy, anamnesis, Partizipation

Kurzinhalt: Theorie des Bewusstseins: Husserl, James, anamnesis, Aufgabe d. Philosophie, Erfahrung des Partizipierens: Zentrum des Bewusstseins

Textausschnitt: 1/18 Wesentliche Fortschritte bei dem Verständnis der Probleme, die mich die vierziger Jahre hindurch und auch bei meiner Arbeit an Order and History beschäftigten, habe ich meiner Korrespondenz mit Alfred Schütz über das menschliche Bewußtsein zu verdanken. Diese Briefe wurden erst 1966 als der erste Teil meines Werkes Anamnesis veröffentlicht. Ursache für die Korrespondenz mit Schütz war die Lektüre von Edmund Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften. Diese Untersuchung interessierte mich sehr aufgrund des großen historischen Bogens, den Husserl hierin von Descartes bis hin zu seinem eigenen Werk schlug. Aber sie verärgerte mich auch in einem hohen Maße wegen der hier zum Ausdruck kommenden, ziemlich naiven Arroganz eines Philosophen, der glaubte, daß mit seiner Methode der Phänomenologie letztendlich der, wie er es nannte, apodiktische Horizont der Philosophie erreicht worden sei und daß von nun an jeder, der ein wahrer Philosoph sein wollte, in der Nachfolge Husserls zu stehen habe. Diese arrogante Haltung erinnerte mich zu sehr an verschiedene andere Philosophien wie die von Hegel oder Marx und ebenso an die Auffassung der Nationalsozialisten, daß sie die endgültige Wahrheit gefunden hätten. (90; Fs)

2/18 Vor allem Husserls Anmaßung, von sich selbst als Sachwalter des Geistes zu sprechen, stieß mich ab. Diese Sprache erinnerte mich an meine gerade erst gemachten Erfahrungen mit Funktionären ganz anderer Art. Meine frühere Analyse des Bewußtseins in Über die Form des amerikanischen Geistes fand nun ihre Fortsetzung in einer ausführlichen Kritik von Husserls Theorie des Bewußtseins. Der entscheidende Punkt dabei war, daß er die sinnliche Wahrnehmung der Dinge der externen Welt zum Modell des Bewußtseins erhob. Wenngleich die intellektuelle Schärfe der Analyse, mit der er dieses Modell der Wahrnehmung entwickelte, nicht zu bestreiten war, so erschien es mir doch lächerlich zu sagen, daß das Bewußtsein nichts anderes als das Bewußtsein von Objekten der äußerlichen Welt sei. (90f; Fs)

3/18 Zu jener Zeit, im Jahre 1942, wußte ich bereits genug über die klassische, die patristische und die scholastische Philosophie, um zu erkennen, daß die Denker, die ihre Philosophie auf eine Analyse des Bewußtseins gegründet hatten, eine Reihe von Phänomenen untersucht hatten, die jenseits der Wahrnehmung von Gegenständen der äußeren Welt lagen. Ich beschäftigte mich deswegen mit der Frage, welche Erfahrungen nun wirklich das Bewußtsein des Menschen konstituieren. Ich tat dies durch eine anamnesis, die Wiedererinnerung an entscheidende Erfahrungen in meiner Kindheit. Und so schrieb ich auch tatsächlich zwanzig kurze Skizzen, die jeweils eine jener frühen Erfahrungen wiedergeben, so daß insgesamt so etwas wie eine intellektuelle Autobiographie bis zum Alter von zehn Jahren entstand. (91; Fs)

4/18 Die beschriebenen Phänomene waren eindeutig dem Bereich des Bewußtseins zuzuordnen, weil sie mein Bewußtsein von verschiedenen Bereichen der Realität im Kindesalter widerspiegelten. Und diese Erfahrungen hatten sehr wenig zu tun mit Objekten der Sinneswahrnehmung. Eine der Erfahrungen, die so tief saßen, daß ich mich noch vierzig Jahre später daran erinnern konnte, war beispielsweise die Geschichte des Mönches von Heisterbach. Heisterbach war die Ruine eines mittelalterlichen Klosters in der Nähe von Königswinter. Wir machten oft unseren Sonntagsausflug dorthin. Der Mönch von Heisterbach war eine mythische Figur. Er verirrte sich, um nach tausend Jahren zurückzukehren und zu entdecken, daß diese tausend Jahre für ihn wie ein einziger Tag verstrichen waren. (91; Fs)

5/18 Solche Formen der Konzentration und Verkürzung von Zeiträumen bildeten, obwohl sie eindeutig nicht Probleme sinnlicher Wahrnehmung sind, entscheidende Elemente zumindest meines Bewußtseins, wenn auch nicht bei Husserl. In dieser An und Weise setzte ich mich mit Erfahrungen auseinander wie beispielsweise den Ängsten und der Faszination, die ich empfand, wenn ich mit Hans Christian Andersen in einem seiner Märchen am Ende der bekannten Welt stand und nach Norden in einen geheimnisvollen, unendlichen Horizont schaute. Oder Erfahrungen festlicher Aufgeregtheit im Leben, die ich empfand, als Schiffe des Nachts den Rhein hinunterfuhren, auf denen Feste gefeiert wurden. (91f; Fs)

6/18 Diese Art von Erfahrungen konstituiert Bewußtsein; und dies ist das wahre Bewußtsein, das ein Mensch besitzt, es sei denn, jemand beharrt darauf, daß meine Kindheit völlig anders als die aller anderen Kinder in der Menschheitsgeschichte gewesen wäre. Diese Erfahrungen der Partizipation in den verschiedenen Bereichen der Realität bilden den Horizont der Existenz in der Welt. Die Betonung liegt auf Erfahrungen der Realität in der Mehrzahl: Ihnen gegenüber gilt es, offen zu sein und sie in Balance zu halten. Dies ist es, was ich unter der Haltung eines Philosophen verstanden habe, und dies ist auch die Haltung, die ich in der offenen Existenz aller großen Philosophen entdeckt habe, auf die ich bis dahin gestoßen war. Diese Offenheit der Realität wiederherzustellen, erschien mir als die zentrale Aufgabe der Philosophie. (92; Fs)

7/18 Für die Analyse der Erfahrungen war ein spezifisches technisches Vokabular erforderlich. Glücklicherweise mußte ich dabei nicht bei Null anfangen, sondern ich konnte Stück für Stück von anderen Philosophen lernen, die denselben Prozeß durchgemacht und bereits Begriffe entwickelt hatten, mit denen sie die analytischen Schritte in der Erforschung ihrer Erfahrungen bezeichnen konnten. Das Zentrum des Bewußtseins, so entdeckte ich, bildete die Erfahrung des Partizipierens, d. h. die Realität, in Kontakt mit der Realität außerhalb meiner selbst zu sein. Dieses Bewußtsein vom Partizipieren als dem zentralen Problem wurde verstärkt durch die Analyse von Mythen, wie sie von den Mitgliedern des Oriental Institute in Chicago unter der Kategorie der Konsubstantialität durchgeführt, von Henri und H. A. Frankfort konzipiert und wahrscheinlich von Lucien Lévy-Bruhl übernommen wurde. Wäre der Mensch nicht konsubstantiell mit der Realität, die er erfährt, dann könnte er sie gar nicht erfahren. (92; Fs)

8/18 Aus der Philosophie erhielt ich wesentliche Bestätigung durch den radikalen Empirismus des William James. James' Studie zur Frage 'Does 'Consciousness' Exist?' aus dem Jahre 1904 erschien mir damals wie heute als eines der wichtigsten philosophischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Bei der Entwicklung seiner Theorie der reinen Erfahrung berührte James das Problem der Realität des Bewußtseins vom Partizipieren, insofern als seine reine Erfahrung sowohl mit dem subjektiven Strom des Bewußtseins als auch mit dem Gegenstand der äußeren Welt in Zusammenhang gebracht werden kann. Diese grundlegende Einsicht von James setzt das, was zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Partizipierens liegt, mit der Erfahrung gleich. Später fand ich heraus, daß dieselbe Art der Analyse in einem weit größeren Maßstab von Platon vorgenommen worden war und in seinem Begriff des metaxy - des Zwischen - ihren Niederschlag gefunden hatte. Die Erfahrung ist weder im Subjekt, noch in der gegenständlichen Welt, sondern im Zwischen. Das heißt: zwischen den beiden Polen Mensch und Realität, die dieser erfährt. (92f; Fs)

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