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Autor: Thomas, Aquin von

Buch: Der neue Bund und die Gnade, I-II 106-114

Titel: F12_106 - Vom Gesetz des Evangeliums oder dem Neuen Gesetz, in sich selbst betrachtet (mit Einleitung)

Stichwort: Einleitung zu Bd. 14 d. Dt. Thomasausgabe 2; Gnade als zweite Natur und Gesetz Christi; Heteronomie d. vom Geiste erfassten Menschen; Gnade als Licht; Tranktat über d. Gesetz als Einleitung zu T. über Gnade; finitum capax infiniti; Mensch als Torso

Kurzinhalt: Gesetz und Gnade sind nur noch insofern „äußere" Hilfen zu nennen, als ihr Ursprung außerhalb des Menschen in Gott und in Christus liegt ... Für diese Menschen hört Gesetz auf, Gesetz zu sein, Pflicht wird innerste Neigung, Opfer wird zur seligen ...

Textausschnitt: E10c Eigentlich hört nun das Gesetz auf, zu den äußeren Hilfen zu zählen. Gesetz und Gnade sind nur noch insofern „äußere" Hilfen zu nennen, als ihr Ursprung außerhalb des Menschen in Gott und in Christus liegt. In Wirklichkeit wirkt die Gnade als „zweite Natur" und ist das „Gesetz" Christi so in den Willen des Begnadeten eingegangen, mit ihm eins geworden, daß es gar nicht mehr als Gesetz erlebt wird, seinen Charakter als Gesetz völlig verliert. Auf diesen radikalen Wandel in der Natur des Gesetzes selbst weist Thomas sofort im ersten Artikel des Traktates mit Energie hin (S. 4 f.) und stützt sich dabei auf ein Wort des Hebräerbriefes, der sich seinerseits auf eine Weissagung des Propheten Jeremias beruft: „Ich werde Meine Satzungen in ihr Inneres legen, spricht der Herr, in ihr Herz werde Ich sie schreiben." Immer neu stellt Thomas diesen Immanenz-Charakter des Neuen Gesetzes heraus (vgl. S. 5 f., 9 f., 26 f., 31 40 44 67). Schon für Augustin, den Thomas in der Antwort des ersten Artikels anführt, stehen sich Altes und Neues Gesetz gegenüber wie das Gesetz auf den kalten, steinernen Tafeln des Moses und das Gesetz des Glaubens mitten im lebendigen, liebenden Herzen der Gläubigen (vgl. auch 106, 2 Zu 3). So wandelt sich die Heteronomie des Gesetzes in die relative Autonomie des vom Heiligen Geiste erfaßten Menschen, die als Teilhabe an der absoluten Autonomie Gottes aus der Gnade fließt und den Menschen, der durch die Gnade „ein Geist wird mit Gott" (1 Kor 6,17), jeder Kreatur überlegen macht (I 112, 1 Zu 4: Bd. 8). Für diese Menschen hört Gesetz auf, Gesetz zu sein, Pflicht wird innerste Neigung, Opfer wird zur seligen Notwendigkeit, Gebot wird in der Erfüllung zum Gebet, Furcht wandelt sich in Liebe („Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus" — 1 Jo 4,18), in der Liebe aber wird der heilige Wille Gottes zum ausschließlichen „Gesetz" des menschlichen Lebens, das göttliche Ebenbild im Menschen nähert sich seinem Urbild, insofern nun auch der menschliche Wille gnadenhaft eins wird mit der Lex aeterna, dem „ewigen Gesetz", so wie dieses „ewige Gesetz" eins ist mit dem Willen und dem Wesen Gottes selbst. Auf dem Wege über das Neue Gesetz kehrt der Mensch zurück zu seinem Ursprung. „Denn das Gesetz (das Alte) ist durch Moses gegeben; Gnade und Wahrheit (charis kai alEtheai — der Inbegriff des „Neuen Gesetzes") ist durch Jesus Christus geworden" (Jo 1,17). (Fs)

12a „Vornehmlich ist das Neue Gesetz Gnade des Heiligen Geistes" (S. 12). Daher folgt völlig organisch und ohne jede innere Zäsur auf den Traktat über das „Neue Gesetz" der über die Gnade. Ja, man könnte die drei Fragen über das Neue Gesetz geradezu als Einleitung zum Gnadentraktat verstehen, gewissermaßen als die Verankerung der Gnadenwirklichkeit in der konkreten, von Gott gelenkten Heilsgeschichte der Menschheit. Alles, was Thomas in diesen 54 Artikeln sagt, ist wie ein Hoheslied auf die absolute Spontaneität der zuvorkommenden Liebe Gottes. Durch die Gnade hebt Gott den Menschen zu Sich empor, macht ihn stark zur innigsten Teilnahme an Seinem persönlichsten, dreifaltigen Leben. Das Endliche wird fähig des Unendlichen, finitum capax infiniti, der Mensch wird „Gottes mächtig durch die Gnade". Das ist nach Thomas nicht einmal so wunderbar, da doch die Seele des Menschen von vornherein, „von Natur aus" auf die Gnade entworfen (S. 206), von Gott Selbst zur innigsten Gemeinschaft, zur „Kommunion" mit Gott bestimmt ist durch die Gnade (S. 150). Durch sie wird der Mensch in der Wurzel seines Seins geheilt und geheiligt. Dabei ist jede Gnade der Eigenart des einzelnen denkbar vollkommen angepaßt. Sie kommt nicht als ein Fremdes in die Seele, sondern als der Seele eigenstes Eigen (S. 26). Nie also bedeutet die Gnade geistige Vergewaltigung. Unendlich stark, weil sie aus der unendlichen Kraft der Liebe Gottes stammt, ist sie doch wieder unendlich zart, weil sie im Herzen des Vaters ihre Heimat hat, und wir mit ihr. So bedeutet sie auch keine irgendwie geartete Beeinträchtigung der menschlichen Freiheit, ganz im Gegenteil: unter dem sanften Walten der Gnade blüht die Freiheit des Menschen erst auf zu ihrer letzten strahlenden Kraft, in libertatem gloriae filiorum Dei — „zur Freiheit der Herrlichkeit der Söhne Gottes" (Röm 8, 21). (Fs)

12b Die Gnade ist ein „Licht" — wie oft wählt Thomas diese Bezeichnung, die in seiner Sicht viel mehr ist als bloße Metapher oder Symbol (vgl. Sachverzeichnis) —, und dieses Licht heilt, kräftigt, durchklärt den ganzen inneren Menschen (S. 122 f.), legt die geistigen Energien frei, die von der Schöpfung her in ihm schlummern, ent-bindet alle Kräfte der Seele, die von der Sünde her mit mancherlei unwürdigen Fesseln gebunden waren. Die Gnade ist wie ein Feuer; auch dieses Bild ist Thomas nicht fremd. Das Feuer scheint in die Natur des von ihm durchglühten Eisens einzugehen, es in sich selbst einzuverwandeln. So wird das von Natur dunkle Eisen licht, das von Natur kalte Eisen wird heiß, das von Natur harte Eisen wird weich. Ganz analog sind die Wirkungen der Gnade in der Seele des Menschen. Unter ihrem geheimnisvollen Einfluß schwinden die für uns selbst und für unsere Mitmenschen oft unheimlichen Dunkelheiten unserer Seele mehr und mehr: „Wir werden verwandelt in dasselbe Bild (Gottes) von Klarheit zu Klarheit wie durch den Geist des Herrn" (2 Kor 3,18); die Hybris des kalten Verstandes wird besiegt durch die zur Metanoia, zum radikalen Umdenken entschlossene, ganz neue, ganz demütige, ganz göttliche Liebe des Herzens; die Härte des widerspenstigen Willens, der sich aufbäumt gegen jede Bevormundung von außen, wird abgelöst durch das Wunder einer alle inneren Widerstände überwindenden, vorbehaltlosen Hingabe, die dem leisesten Wink Gottes offensteht. Wer auch nur in etwa ahnt, wie schwer der Geist des Menschen, weil er Geist ist, sich selbst aufgibt, den mag es nicht wundernehmen, daß Thomas die Bekehrung eines Menschen höher stellt als die Schöpfung einer neuen Welt (S. 202) und die geringste, dem einzelnen von Gott geschenkte Gnade höher schätzt als die im gesamten Universum aufgespeicherten natürlichen Werte (S. 203). (Fs; tblStw: Metapher) (notabene)
13a Ohne Gnade aber bleibt die Natur des Menschen ein Torso, bleiben Verstand und Wille, Eros und Sexus unerlöst, voneinander isoliert, bleibt das doppelte Gesetz in den Gliedern (Röm 7,23), bleiben „zwei Seelen wohnen in der Brust" (Goethe), kommen weder die einzelnen noch die Völker untereinander zur inneren Klarheit und Ausgeglichenheit, zur Eintracht, zum Frieden. Ohne Gnade sein heißt leben „ohne Hoffnung und ohne Gott in dieser Welt" (Eph 2, 12). (Fs; tblStw: Metaphe) (notabene)

13b Gegenüber diesen Feststellungen von letzter Wucht und Dringlichkeit bleibt die göttliche Verwaltung der Gnade, wie Thomas sie im einzelnen darzulegen versucht, nur noch insofern bedeutsam, als erst aus ihr die ganze Länge und Breite und Höhe und Tiefe der „alle Erkenntnis übersteigenden Liebe Christi" (Eph 3, 18 f.) in den göttlichen Dimensionen des Gnaden-Kosmos mit seinen besonderen Gesetzen, Gesetzen der Liebe und der Freiheit, aufleuchtet. Wie für das Gesamtwerk des hl. Thomas, so gilt gerade für seinen Gnadentraktat, daß Gott in ihm wirklich „das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende" ist (Offb 22, 13). Wahrlich, ein einziges Hoheslied „zum Lobe der Herrlichkeit Seiner Gnade" (Eph 1, 12). (Fs)

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