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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Ende d. Modernität 5; Hobbes' Symbolik radikaler Immanenz; 1 amor sui - Dei: H., Rochefoucauld; Psychologie des "modernen" Menschen; 2 Verfallstyp als Normaltyp; 3 Leviathan

Kurzinhalt: Eine spezifisch "moderne" Psychologie entwickelte sich als die empirische Psychologie des "modernen" Menschen, d. h. des Menschen, der intellektuell und spirituell fehlorientiert ist und darum vor allem von seinen Leidenschaften her motiviert wird.

Textausschnitt: 5. Hobbes' Symbolik

253a Joachim von Flora hatte ein Aggregat von Symbolen geschaffen, das die Selbstinterpretation moderner politischer Bewegungen im ganzen beherrschte. Hobbes schuf ein vergleichbares Aggregat, das die Komponente radikaler Immanenz in der modernen Politik zum Ausdruck brachte. (Fs)

253b Das erste dieser Symbole kann als die neue Psychologie. bezeichnet werden. Ihre Natur läßt sich am besten durch ihr Vorhältnis zur augustinischen Psychologie, von der sie herstammt, definieren. Augustinus unterschied zwischen dem amor sui und dem amor Dei als den organisierenden Willenszentren der Seele. Hobbes entledigte sich des amor Dei und gründete seine Psychologie ausschließlich auf den amor sui, in seiner Sprache: auf die Selbstüberheblichkeit oder den Stolz des Individuums. Durch diese Ausschaltung des amor Dei aus der Interpretation der Psyche fand eine Entwicklung, die mindestens bis zum zwölften Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, ihren Abschluß. Mit dem Erscheinen des selbstvertrauenden Individuums in der Gesellschaft zog dieser neue Typus mit seinem Streben nach öffentlichem Erfolg, über den jeweiligen Status hinaus, die Aufmerksamkeit auf sich. Schon Johannes von Salisbury hat ihn in seinem Policraticus in Ausdrücken beschrieben, die denen Hobbes' sehr ähnlich sind.1 Im Gefolge der institutionellen Umwälzungen des Spätmittelalters und der Reformation wurde dann der Typus so häufig, daß er als der "normale" Menschentypus erschien und als solcher Gegenstand allgemeinen Interesses wurde. Das psychologische Werk Hobbes' fand seine gleichzeitige Parallele in der Psychologie Pascals, wenn auch Pascal in der christlichen Tradition lebte und den Menschen, der nur von seinen Leidenschaften gelenkt wird, als den Menschen bezeichnete, der dem einen oder anderen Typus des Libido zum Opfer gefallen ist. Und ebenfalls zur selben Zeit begann mit La Rochefoucauld die Psychologie des "Weltmenschen", der von seinem amour-propre (dem augustinisecen amor sui) angetrieben wird. Um sich die weite Verbreitung des Phänomens zu vergegenwärtigen, erinnere man sich der nationalen Sonderbildungen in der französischen Psychologie der Moralisten und Romanschriftsteller, in der englischen Psychologie von Lust und Schmerz, des Assoziationismus und des Selbstinteresses, und der deutschen Bereicherungen durch die Psychologie des Unbewußten der Romantiker und die Psychologie Nietzsches. Eine spezifisch "moderne" Psychologie entwickelte sich als die empirische Psychologie des "modernen" Menschen, d. h. des Menschen, der intellektuell und spirituell fehlorientiert ist und darum vor allem von seinen Leidenschaften her motiviert wird. Es wird zweckmäßig sein, die Ausdrücke "Orientierungspsychologie" und "Motivierungspsychologie" einzuführen, um eine Wissenschaft der gesunden Psyche im platonischen Sinne, in der die Ordnung der Seele durch transzendente Orientierung geschaffen wird, von der Wissenschaft der fehlorientierten Psyche zu unterscheiden, die durch ein Gleichgewicht der Motivationen geordnet werden muß. Die "moderne" Psychologie in diesem Sinne ist insofern eine unvollständige Psychologie, als sie sich nur mit einem bestimmten pneumopathologischen Menschentypus befaßt. (Fs) (notabene)

255a Das zweite Symbol betrifft die Idee vom Menschen selbst. Da der "Verfallstyp" wegen seiner empirischen Häufigkeit als der "Normaltyp" verstanden wurde, entwickelte sich eine philosophische Anthropologie, in welcher die Krankheit als die "Natur des Menschen" interpretiert wurde. Der Raum gestattet es nicht, uns intensiver mit diesem Problem zu befassen. Es muß genügen, auf die Linie hinzuweisen, die von den Existenzialisten unserer Zeit zurück zu den Existenzphilosophen des siebzehnten Jahrhunderts läuft. Was kritisch zu dieser Philosophie immanenter Existenz zu sagen ist, wurde grundsätzlich schon von Platon in seinem Gorgias gesagt. (Fs) (notabene)

256a Das dritte Symbol schließlich ist die spezifisch Hobbes'sche Schöpfung des Leviathan. Seine Bedeutung wird heute kaum verstanden, weil das Symbol vom Gerede über Absolutismus erdrückt wird. Die vorausgegangene Darstellung dürfte gezeigt haben, daß der Leviathan das Ordnungskorrelat zur Unordnung der gnostischen Aktivisten ist, die sich ihrer superbia bis zum Extrem des Bürgerkrieges hingeben. Der Leviathan läßt sich nicht mit der historischen Form der absoluten Monarchie identifizieren. Die royalistischen Zeitgenossen verstanden das sehr wohl; und ihr Argwohn gegenüber Hobbes war gerechtfertigt. Ebensowenig läßt sich das Symbol mit dem Totalitarismus auf dessen eigener symbolischer Ebene eines Endreiches der Vollkommenheit identifizieren. Es umreißt vielmehr eine Komponente des Totalitarismus, die dann zum Vorschein kommt, wenn eine Gruppe gnostischer Aktivisten tatsächlich das Monopol existentieller Repräsentation in einer historischen Gesellschaft erlangt. Die siegreichen Gnostiker können weder die menschliche Natur verklären noch ein irdisches Paradies etablieren. Was sie in der Tat erreichen, ist ein allmächtiger Staat, der rücksichtslos jede Quelle von Widerstand ausschaltet, in erster Linie die lästigen Gnostiker selbst. Soweit unsere Erfahrung mit totalitären Imperien reicht, ist deren charakteristischer Zug die Unterdrückung der Diskussion über die gnostische Wahrheit, die sie selbst zu repräsentieren vorgeben. Die Nationalsozialisten unterdrückten die Diskussion der Rassenfrage, sobald sie an der Macht waren. Die Sowjetregierung verbietet die Diskussion über den Marxismus und dessen Weiterentwicklung. Das Hobbes'sche Prinzip, daß die Gültikkeit der Schrift sich von der Sanktion der Regierung herleite, und daß ihre öffentliche Verkündung vom Souverän zu überwachen sei, wird von der Sowjetregierung in die Tat umgesetzt durch die Beschränkung des Kommunismus auf die "Parteilinie". Die Parteilinie mag sich ändern, aber die Änderung der Interpretation wird von der Regierung bestimmt. Intellektuelle, die dennoch darauf bestehen, eigene Meinungen über den Sinn der koranischen Schriften zu haben, fallen der Säuberung zum Opfer. Die gnostische Wahrheit, die von den ursprünglichen gnostischen Denkern frei hervorgebracht wurde, wird eingedämmt zur Wahrheit der öffentlichen Ordnung in immanenter Existenz. Daher ist der Leviathan das Symbol des Schicksals, das die gnostischen Aktivisten ereilt, wenn sie in ihrem Traum wähnen, das Reich der Freiheit zu verwirklichen. (Fs)

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