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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Ende d. Modernität 2b; Gnostizismus: klass. und chr. Ethik: sophia, prudentia - gnostische Traumwelt: Nichtanerkennung der Realität; gnost. Gesellschaften: magische Operationen; Definition: Friede, Krieg; Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung

Kurzinhalt: Die Interpretation der sittlichen Korrruption als Moralität, und der Tugend der sophia und prudentia als Immoralität, ist eine schwer aufzulösende Verwirrung ... Die gnostischen Politiker haben jedoch die Sowjetarmee an die Elbe gebracht ...

Textausschnitt: 233a Die Art der Schwierigkeit, der man hier begegnet, läßt sich wohl am besten an einem Beispiel aufzeigen. In der klassischen und christlichen Ethik ist die erste der sittlichen Tugenden die sophia oder prudentia, weil ohne angemessenes Verständnis der Struktur der Realität, einschließlich der conditio humana, die sittliche Handlung mit rationaler Zuordnung von Mittel und Zweck nicht möglich ist. In der gnostischen Traumwelt hingegen ist die Nichtanerkennung der Realität das erste Prinzip. Infolgedessen gelten gewisse Handlungstypen, die in der realen Welt wegen der realen Folgen, die sie zeitigen, als sittliche Erkrankung angesehen werden, in der Traumwelt als sittlich, weil sie ganz andere Folgen beabsichtigt hatten. Die Kluft zwischen beabsichtigter und wirklicher Folge wird nicht der gnostischen Unsittlichkeit, die Struktur der Realität zu ignorieren, zugeschrieben, sondern der Unsittlichkeit irgendeiner anderen Person oder Gesellschaft, die sich nicht so verhält, wie sie sich gemäß der Traumkonzeption von Ursache und Wirkung verhalten sollte. Die Interpretation der sittlichen Korrruption als Moralität, und der Tugend der sophia und prudentia als Immoralität, ist eine schwer aufzulösende Verwirrung, und die Aufgabe wird nicht erleichtert durch die Bereitschaft der Träumer, jeden Versuch einer kritischen Klärung als unsittliches Unterfangen zu brandmarken. In der Tat wurde beinahe so gut wie jeder große politische Denker, der die Struktur der Realität anerkannte, von Macchiavelli bis zur Gegenwart, von gnostischen Intellektuellen als unmoralisch gebrandmarkt - ganz zu schweigen von jenem bei Intellektuellen so beliebten Gesellschaftsspiel, Platon und Aristoteles zu Faschisten zu stempeln. Die theoretische Schwierigkeit wird also noch durch persönliche Probleme vergrößert. Und es steht außer Zweifel, daß der stetige Strom des gnostischen beschimpfenden Tadels, der sich gegen die politische Wissenschaft im kritischen Sinne richtet, das Niveau der öffentlichen Diskussion über politische Fragen der Gegenwart stark herabgedrückt hat. (Fs) (notabene)

234a Die Identifizierung von Traum und Wirklichkeit als Prinzip zeitigt praktische Ergebnisse, die seltsam erscheinen mögen, aber kaum als überraschend angesehen werden können. Die kritische Erforschung von Ursache und Wirkung in der Geschichte ist verboten; die rationale Koordinierung von Zweck und Mittel in der Politik ist daher unmöglich. Gnostische Gesellschaften und ihre Führer erkennen zwar Gefahren, wenn sie ihre Existenz bedrohen, aber sie begegnen ihnen nicht durch adäquate Maßnahmen in der Welt der Wirklichkeit. Vielmehr tritt man diesen Gefahren durch magische Operationen in der Traumwelt entgegen, wie Mißbilligung, Zurückweisung, moralische Verurteilung, Deklarationen von Grundsätzen, Resolutionen, Appelle an die Meinung der Menschheit, Brandmarkung von Feinden als Agressoren, Ächtung des Krieges, Propaganda für Weltfrieden und Weltregierung etc. Die geistige und sittliche Korrruption, die sich in dem Aggregat solcher magischer Operationen ausdrückt, kann eine Gesellschaft mit der unheimlichen, geisterhaften Atmosphäre eines Irrenhauses durchdringen, wie wir es zu unserer Zeit in der Krise des Westens erleben. (Fs)

235a Eine erschöpfende Studie der Manifestationen gnostischen Irrsinns in der Praxis der gegenwärtigen Politik würde weit über den Rahmen dieser Abhandlung hinausgehen. Die Analyse muß sich auf jenes Symptom konzentrieren, das den selbstzerstörerischen Charakter gnostischer Politik am besten veranschaulicht, nämlich auf die Seltsamkeit des dauernden Kriegszustandes zu einer Zeit, in der jede politische Gesellschaft durch ihre Repräsentanten ihren brennenden Wunsch nach Frieden bekundet. In einer Zeit, in der Krieg Frieden und Frieden Krieg ist, dürften einige Definitionen angebracht sein, um die Bedeutung dieser Ausdrücke klarzustellen. Friede soll eine zeitweilige Ordnung sozialer Beziehungen bedeuten, die adäquat ein Gleichgewicht existentieller Kräfte zum Ausdruck bringt. Dieses Gleichgewicht kann durch verschiedene Ursachen gestört werden, wie etwa Bevölkerungszunahme in diesem und Bevölkerungsabnahme in einem anderen Gebiet, technische Entwicklungen, die rohstoffreiche Gebiete begünstigen, Verlagerung von Handelsstraßen etc. Krieg soll bedeuten die Anwendung von Gewalt zum Zwecke der Wiederherstellung eines Gleichgewichts, entweder durch Unterdrückung der störenden Zunahme existentieller Kräfte oder durch eine Neuordnung sozialer Beziehungen, die adäquat das neue Kräfteverhältnis der existentiellen Mächte zum Ausdruck bringt. Politik soll den Versuch bedeuten, das Gleichgewicht der Kräfte herzustellen oder die Ordnung anzupassen durch diplomatische Methoden oder durch den Aufbau abschreckender Gegenkräfte bis an den Rand des Krieges. Diese Definitionen sollten jedoch nicht als der Weisheit letzter Schluß in so gewaltigen Fragen, wie es Friede, Krieg und Politik sind, angesehen werden, sondern lediglich als eine Erklärung der Regeln, die unsere Formulierung des vorliegenden Problems bestimmen. (Fs) (notabene)

236a Die gnostische Politik ist insofern selbstzerstörend, als Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, den Frieden herzustellen, die Störungen, die zum Krieg führen, noch steigern. Der Mechanismus dieser Selbstzerstörung wurde soeben durch die Schilderung magischer Operationen in der Traumwelt dargelegt. Wenn einer einsetzenden Störung des Gleichgewichts nicht durch die entsprechende politische Aktion in der Welt der Wirklichkeit begegnet wird, sondern statt dessen mit magischen Beschwörungen, kann sie zu solchen Ausmaßen anwachsen, daß ein Krieg unvermeidlich ist. Der Musterfall hierfür ist der Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung zur Macht, zunächst in Deutschland, dann den ganzen Kontinent bedrohend, mit der Begleitung des gnostischen Chores, der wehklagend seiner moralischen Entrüstung über solch barbarisches und reaktionäres Gebaren in einer fortschrittlichen Welt Ausdruck verlieh - ohne auch nur einen Finger zu rühren, um den aufsteigenden Kräften rechtzeitig durch eine geringe politische Anstrengung Einhalt zu gebieten. Die Vorgeschichte des zweiten Weltkriegs wirft die ernste Frage auf, ob der gnostische Traum die westliche Gesellschaft nicht bereits so tief unterhöhlt hat, daß rationale Politik unmöglich geworden und der Krieg zum einzigen Mittel geworden ist, um Störungen im Gleichgewicht der existentiellen Kräfte auszugleichen. (Fs)

236b Die Kriegsführung und die Nachkriegszeit sind leider dazu angetan, diese Vermutung eher zu begründen als zu entkräften. Wenn ein Krieg überhaupt einen Zweck hat, so ist es die Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts und nicht die Verschlimmerung der Störungen; die Verminderung des störenden Krafftübermaßes, nicht die Zerstörung von Kraft bis zu dem Punkt, der ein neues gleichgewichtstörendes Machtvakuum entstehen läßt. Die gnostischen Politiker haben jedoch die Sowjetarmee an die Elbe gebracht, China den Kommunisten ausgeliefert, zur gleichen Zeit Deutschland und Japan demilitarisiert und obendrein die amerikanische Armee demobilisiert. Das sind abgedroschene Wahrheiten, und doch ist es vielleicht nicht genügend klar, daß nie zuvor in der Menschheitsgeschichte eine Weltmacht ihren Sieg dazu benützt hat, ein Machtvakuum zu ihrem eigenen Nachteil zu schaffen. Wiederum muß wie bei früheren Gelegenheiten darauf hingewiesen werden, daß Phänomene dieser Größenordnung sich nicht durch Ignoranz und Dummheit erklären lassen. Diese Politik wurde als Sache eines Prinzips verfolgt, auf Grund gnostischer Traumannahmen betreffend die menschliche Natur im allgemeinen, betreffend die mysteriöse Entwicklung der Menschheit zu einem Zustand des Friedens und der Weltordnung, betreffend die Möglichkeit der Errichtung einer internationalen Ordnung im luftleeren Raum ohne Beziehung zur Struktur des existentiellen Kraftfeldes, und schließlich betreffend Armeen, die anstelle der Kräfte und Konstellationen, welche die Armeen aufbauen und in Bewegung setzen, als Kriegsursache angesehen werden. Die aufgezählte Reihe von Aktionen sowie die Traumannahmen, auf welche sie sich gründen, machen wohl deutlich, daß der Kontakt mit der Realität zumindest stark gestört und daß die pathologische Substitution der Traumwelt in hohem Maße Wirklichkeit geworden ist. (Fs)

237a Weiter ist noch zu bemerken, daß das einzigartige Phänomen einer Großmacht, die zu ihrem eigenen Schaden ein Machtvakuum schafft, von dem ebenfalls einzigartigen Phänomen der militärischen Beendigung eines Krieges ohne den Abschluß von Friedensverträgen begleitet war. Auch dieses reichlich beunruhigende Phänomen ist nicht mit der verwirrenden Komplexität der Probleme, die einer Lösung bedürfen, zu erklären. Wiederum liegt es an der Traumbesessenheit, daß es den Repräsentanten gnostischer Gesellschaften unmöglich ist, eine Politik zu formulieren, die der Struktur der Realität Rechnung trägt. Es kann zu keinem Frieden kommen, weil der Traum sich nicht in die Realität übertragen läßt und die Realität den Traum noch nicht gebrochen hat. Niemand vermag vorauszusagen, welcher Alpträume von Gewalttaten es bedarf, um den Traum zu brechen, und noch weniger, wie die westliche Gesellschaft au bout de la nuit aussehen wird. (Fs)

238a Die gnostische Politik ist also selbstzerstörerisch insofern, als ihre Außerachtlassung der Struktur der Realität zu einem dauernden Kriegszustand führt. Dieses System der Ketten-Kriege kann nur auf eine von zwei Weisen zu Ende kommen. Entweder wird es zu schrecklichen physischen Zerstörungen kommen, begleitet von revolutionären Veränderungen der Sozialordnung über alles Voraussagbare hinaus. Oder es wird im Verlauf des natürlichen Generationswechsel zur Absage an das gnostische Träumen kommen, bevor das Schlimmste geschehen ist. In diesem Sinne ist die oben gemachte Andeutung zu verstehen, daß das Ende des gnostischen Traums vielleicht näher ist, als man normalerweise annehmen möchte. (Fs)

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