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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Ende d. Modernität 3; Liberalismus und Kommunismus; Lenin (Himmel auf Erden); Varianten d. Immanentisierung: teleologische, axiologische, aktivistische; 2. Weltkrieg (danach: gnostische Politik); Welle: rechts-links

Kurzinhalt: Die Dynamik der Gnostik bewegt sich auf zwei Linien: (1) In der Dimension der historischen Tiefe bewegt sich der Gnostizismus von der unvollständigen Immanentisierung des Hohen Mittelalters zur radikalen Immanentisierung der Gegenwart; (2) ...

Textausschnitt: 3 Liberalismus und Kommunismus

238a Die Darstellung der Gefahren des Gnostizismus als Ziviltheologie der westlichen Gesellschaft hat wahrscheinlich einige Bedenken erweckt. Denn die Analyse war voll zutreffend nur für die progressiven und idealistischen Varianten des Gnostizismus, wie sie in den westlichen Demokratien vorherrschen; sie läßt sich nicht ebensogut auf die aktivistischen Varianten anwenden, wie sie in den totalitären Reichen vorherrschen. Und wieviel Verantwortung für die gegenwärtige Situation man auch immer den Progressivisten und Idealisten zur Last legen mag, so sind doch die Aktivisten die furchtbarste und unmittelbare Gefahrenquelle. Der enge Zusammenhang zwischen den beiden Gefahren erfordert darum eine Klärung - umsomehr als die Repräsentanten der zwei gnostischen Spielarten Gegner im Kampf auf der Weltbühne sind. Der Analyse dieser weiteren Fragen kann mit Vorteil die Erklärung eines berühmten liberalen Intellektuellen zum Problem des Kommunismus als Vorwort dienen: (Fs)

Lenin hat sicherlich recht, wenn ihm als Endziel vorschwebte, seinen Himmel auf Erden zu errichten und die Grundsätze seines Glaubens der Textur einer universalen Menschheit einzugraben. Ebenso hatte er recht, wenn er erkannte, daß das Vorspiel zum Frieden der Krieg ist und daß es müßig ist anzunehmen, die Tradition ungezählter Generationen ließe sich sozusagen über Nacht umändern.1 (Fs)

Die Macht jeder übernatürlichen Religion, eine solche Tradition aufzubauen, ist geschwunden; das Depositum der wissenschaftlichen Forschung seit Descartes ist ihrer Autorität zum Verhängnis geworden. Es ist daher schwer zu ersehen, auf welcher anderen Grundlage die zivilisierte Tradition wieder aufgebaut werden könnte als auf jener, auf welche sich die Idee der russischen Revolution gründet. Sie entspricht, abgesehen von der übernatürlichen Basis, ziemlich genau dem geistigen Klima, in dem das Christentum zur offiziellen Religion des Westens wurde.2 (Fs)

Es ist sogar in gewissem Sinne richtig, wenn behauptet wird, das russische Prinzip gehe tiefer als das christliche, weil es die Erlösung für die Massen durch Erfüllung im Diesseits sucht und dadurch die wirkliche Welt, die wir kennen, neu ordnet.3 (Fs)

240a Wenige Stellen könnten den Bankrott des liberalen Intellektuellen unserer Zeit deutlicher aufzeigen als diese. Philosophie und Christentum liegen außerhalb seines Erfahrungsbereiches. Die Wissenschaft wird ein Werkzeug zur Beherrschung der Natur; und im übrigen macht sie den Menschen so blasiert, daß er nicht an Gott glaubt. Der Himmel wird auf Erden errichtet werden. Die Selbsterlösung, die Tragödie des Gnostizismus, die Nietzsche durchlebte, bis sie seine Seele zerbrach, ist ein Lebensinhalt, den jeder Mensch mit dem Gefühl gewinnt, er leiste seinen Beitrag zur Gesellschaft gemäß seinem Können, wofür er als Gegenleistung seinen Wochenlohn erhält. Es gibt keine Probleme menschlicher Existenz in der Gesellschaft außer der immanenten Befriedigung der Massen. Die politische Analyse zeigt, wer der Gewinner im Machtkampf sein wird, so daß der Intellektuelle sich rechtzeitig auf die Position eines Hoftheologen des kommunistischen Reiches vorbereiten kann. Und wer schlau genug ist, wird ihm in seinem kundigen Wellenreiten auf der Woge der Zukunft folgen. Der Fall ist heute zu gut bekannt, um eines weiteren Kommentars zu bedürfen. Es ist der Fall der kleinen Parakleten, in denen sich der Geist regt; derer, die den Drang verspüren, eine öffentliche Rolle zu spielen und als Lehrer der Menschheit aufzutreten; der Menschen, die in gutem Glauben ihre Überzeugung an die Stelle kritischer Erkenntnis setzen und mit gutem Gewissen ihre Meinung über Probleme äußern, die ihr Fassungsvermögen übersteigen. Man sollte auch nicht die innere Folgerichtigkeit und Ehrlichkeit dieses Übergangs vom Liberalismus zum Kommunismus bestreiten; denn wenn der Liberalismus als die immanente Erlösung von Mensch und Gesellschaft verstanden wird, ist der Kommunismus zweifellos sein radikalster Ausdruck; es handelt sich um das Ende einer Entwicklung, die schon durch John Stuart Mills Glauben an den Advent des Kommunismus für die Menschheit vorweggenommen wurde. (Fs)

241a In mehr technischer Sprache kann man das Problem folgendermaßen formulieren: Die drei zur Wahl stehenden - Varianten der Immanentisierung - die teleologische, die axiologische und die aktivistische - sind nicht einfach drei koordinierte Typen, sondern sie stehen in einer dynamischen Relation zueinander. In jeder Welle der gnostischen Bewegung werden die fortschrittlichen und utopistischen Varianten die Tendenz zeigen, einen politischen rechten Flügel zu bilden, der die letzte Vollendung einer allmählichen Evolution überläßt und sich mit einer Spannung zwischen dem Erreichten und dem Ideal zufriedengibt, während die aktivistische Variante dahin tendiert, einen politischen linken Flügel zu bilden, der die Gewalt zur Verwirklichung des vollkommenen Reiches einsetzt. Die Streuung der Gläubigen von der Rechten zur Linken wird zum Teil durch persönliche Faktoren wie Begeisterungsfähigkeit, Temperament und Ausdauer bestimmt; zum anderen, und vielleicht bedeutsameren Teile, ergibt sie sich jedoch aus der Beziehung der Gläubigen zur zivilisatorischen Umwelt, in der sich die gnostische Revolution vollzieht. Denn man darf nicht vergessen, daß die westliche Gesellschaft nicht durch und durch modern ist, sondern daß die Modernität etwas in ihr Gewachsenes, ihrer klassischen und christlichen Tradition Entgegengesetztes ist. Wäre in der westlichen Gesellschaft nichts anderes vorhanden als der Gnostizismus, dann wäre der Schritt nach links nicht aufzuhalten, weil er in der Logik der Immanentisierung liegt, ja er wäre schon längst vollzogen. Tatsächlich aber haben sich die großen westlichen Revolutionen der Vergangenheit nach ihrem jeweiligen Linksausschlag stets zu einem Zustand öffentlicher Ordnung beruhigt, der das Gleichgewicht der sozialen Kräfte, mit ihren wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Traditionen, ausdrückte. Die Befürchtung oder Hoffnung- je nach der persönlichen Einstellung -, auf die "partiellen" Revolutionen der Vergangenheit würde die "radikale" Revolution und die Errichtung des Endreiches folgen, beruht auf der Annahme, daß die Traditionen der westlichen Gesellschaft nunmehr ausreichend zerstört und die berühmten Massen zum letzten Sturm bereit seien.4 (Fs)

242a Die Dynamik der Gnostik bewegt sich auf zwei Linien: (1) In der Dimension der historischen Tiefe bewegt sich der Gnostizismus von der unvollständigen Immanentisierung des Hohen Mittelalters zur radikalen Immanentisierung der Gegenwart; (2) mit jeder Welle und jedem revolutionären Ausbruch bewegt er sich in der Amplitude von rechts und links. Die These jedoch, daß die beiden Linien der Dynamik auf Grund ihrer inneren Logik in unserer Zeit zusammentreffen müßten, daß die westliche Gesellschaft nunmehr reif sei, dem Kommunismus zu verfallen, daß der Lauf der westlichen Geschichte von nichts anderem als der Logik ihrer Modernität bestimmt sei - das ist eine impertinente These der gnostischen Propaganda und hat nichts mit einem kritischen Urteil über Politik zu tun. Dieser These müssen eine Anzahl von Tatsachen entgegengehalten werden, die heute verdrängt werden, weil die öffentliche Diskussion von den liberalen Klischees beherrscht wird. Erstens hat die kommunistische Bewegung in der westlichen Gesellschaft selbst, wenn sie ihren Appell an die Massen ohne die Unterstützung der Sowjetregierung zu richten hatte, so gut wie gar nichts erreicht. Die einzige gnostische aktivistische Bewegung, die einen beachtlichen Erfolg erzielte, war die nationalsozialistische Bewegung auf einer begrenzten nationalen Basis; und der selbstmörderische Charakter eines solchen aktivistischen Erfolges wird durch die grauenhafte innere Korrruption des Regimes, solange es bestand, sowie durch die Trümmer der deutschen Städte und die Teilung des Reiches ausreichend bezeugt. Zweitens ist die Notlage des Westens angesichts der sowjetischen Gefahr, sofern sie auf die Schaffung des oben beschriebenen Machtvakuums zurückgeht, nicht von den Kommunisten verursacht worden. Das Machtvakuum wurde aus freien Stücken von den westlichen demokratischen Regierungen auf der Höhe eines militärischen Sieges, ohne Druck von irgendeiner Seite geschaffen. Drittens hat die Tatsache, daß die Sowjetunion eine sich auf dem Kontinent ausdehnende Großmacht ist, nichts mit Kommunismus zu tun. Die derzeitige Ausbreitung der Sowjetherrschaft über die Satellitenstaaten entspricht ziemlich genau dem Programm eines slavischen Imperiums unter russischer Hegemonie, wie es beispielsweise Bakunin Nikolaus I. unterbreitet hatte. Es ist durchaus denkbar, daß eine nicht-kommunistische russische Hegemonialmacht heute die gleiche Ausdehnung wie das Sowjetreich hätte und eine noch größere Gefahr darstellte, weil sie vielleicht besser konsolidiert wäre. Viertens ist das Sowjetreich trotz seiner gewaltigen Macht nicht eine überwältigende Gefahr durch seine bloße materielle Stärke. Elementare Statistik zeigt, daß die Arbeitskraft, die Rohstoffquellen und das Industriepotential des Westens jeder Kraft, über die die Sowjetunion verfügt, gewachsen sind - ohne Berücksichtigung der im Hintergrund stehenden amerikanischen Macht. Die Gefahr erwächst aus dem nationalen Partikularismus und der lähmenden geistigen und moralischen Verwirrung des Westens. (Fs)

244a Das Problem der kommunistischen Gefahr geht auf das Problem der Lähmung und der selbstzerstörerischen Politik des Westens infolge der gnostischen Träumerei zurück. Die oben zitierten Stellen decken die Störungsquelle auf. Die Gefahr des Abgleitens von der Rechten zur Linken liegt in der Natur des Traumes. Da der Kommunismus ein radikalerer und folgerichtigerer Typus der Immanentisierung ist als der Progressivismus oder der soziale Utopismus, hat er die logique du coeur auf seiner Seite. Die westlichen gnostischen Gesellschaften befinden sich in einem Zustand geistiger und emotionaler Lähmung, weil es nicht möglich ist, grundlegende Kritik an der gnostischen Linken zu üben, ohne dadurch gleichzeitig die gnostische Rechte zu sprengen. Erlebnismäßige und geistige Revolutionen dieser Größenordnung erfordern jedoch Zeit und den Wechsel zumindest einer Generation. Man kann nicht mehr tun, als die Problemlage formulieren. Auch unter den günstigsten äußeren Verhältnissen wird die kommunistische Gefahr lauern, solange die öffentliche Diskussion in den westlichen Gesellschaften von den gnostischen Klischees beherrscht wird; das heißt also: solange die Erkenntnis von der Struktur der Wirklichkeit, die Pflege der Tugenden der sophia und prudentia, die Disziplin des Intellekts, die Pflege theoretischer Kultur und des Lebens des Geistes in der Öffentlichkeit als "reaktionär" gebrandmarkt werden, während Mißachtung der Struktur der Wirklichkeit, Ignoranz betreffend Tatsachen, Fehlkonstruktion und Verfälschung der Geschichte, unverantwortliche Meinungsäußerung auf Grund aufrichtiger Gesinnung, philosophische Unbildung, geistige Trägheit, agnostische Überheblichkeit als die großen Tugenden des Menschen angesehen werden, deren Besitz die Karriere sichert - kurz: solange die Kultur des Geistes als Reaktion und sittliche Verkommenheit als Fortschritt gilt. (Fs)

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