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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 2b; Konstantinopel (2. Rom), Caesaropapismus; Moskau (3. Rom); Iwan IV. (Maximilian II.); Napoleon, 2. Nationen: Russland - der Westen

Kurzinhalt: Zu genau dem Zeitpunkt, als die westliche Reichsorganisation endgültig auseinanderbrach, als die westliche Gesellschaft sich in die Nationen und die Vielzahl von Kirchen neu artikulierte, trat Rußland seine Laufbahn als der Erbe Roms an.

Textausschnitt: 162a Die augustinische Konzeption von der Kirche wurde nur im Westen in der Weise historisch wirksam, daß sie zu einer klaren doppelten Repräsentation der Gesellschaft durch die spirituale und die temporale Macht führte. Diese Entwicklung wurde sicher dadurch begünstigt, daß der Sitz des temporalen Herrschers geographisch weit von Rom entfernt lag. Im Osten hingegen entstand die byzantinische Form des Caesaropapismus in direkter Fortführung der Stellung des Kaisers im heidnischen Rom. Konstantinopel war das zweite Rom, wie dies die Erklärung Justinians zur consuetudo Romae sichtbar werden ließ: "Unter Rom ist jedoch nicht nur das alte Rom, sondern auch unsere königliche Stadt zu verstehen."1 Nachdem Konstantinopel an die Türken gefallen war, entstand in russischen kirchlichen Kreisen die Idee Moskaus als des Nachfolgers des orthodoxen Imperiums. Ich darf hier die bekannten Stellen aus den Briefen des Philotheos von Pskov zitieren.
Die Kirche des ersten Rom fiel infolge der gottlosen Häresie des Apollinaris. Die Tore des zweiten Rom wurden durch die Ismaeliten eingeschlagen. Heute erstrahlt die heilige apostolische Kirche des dritten Rom in deinem Reich im Glorienschein des christlichen Glaubens über die ganze Welt. Wisse, o frommer Zar, daß alle Reiche der rechtgläubigen Christen sich zu dem deinen vereint haben. Du bist auf der ganzen Erde der einzige Zar aller Christen [] Nach den prophetischen Büchern werden alle christlichen Reiche ihr Ende finden und sich zu einem Reich vereinigen, dem unseres Gossudars, das heißt zum Reich Rußlands. Zwei Rom sind gefallen, aber das dritte wird bestehen, und es wird kein viertes geben.2

163a Es dauerte etwa ein Jahrhundert, bis der Gedanke institutionell verwirklicht war. Iwan IV. war der erste Rurikide, der sich im Jahre 1547 zum Zar der Orthodoxen krönen ließ;3 und 1589 wurde der Patriarch von Konstantinopel gezwungen, den ersten autokephalen Patriarchen von Moskau einzusetzen, nunmehr mit der offiziellen Anerkennung Moskaus als des Dritten Rom.4 (Fs)

164a Die Daten des Aufkommens und der institutionellen Verwirklichung der Idee sind von Bedeutung. Die Regierungszeit Iwans des Großen fällt mit der Zeit der Konsolidierung der westlichen Nationalstaaten (England, Frankreich und Spanien) zusammen, die Regierungszeiten Iwans IV. und Fjodors I. mit der westlichen Reformation. Zu genau dem Zeitpunkt, als die westliche Reichsorganisation endgültig auseinanderbrach, als die westliche Gesellschaft sich in die Nationen und die Vielzahl von Kirchen neu artikulierte, trat Rußland seine Laufbahn als der Erbe Roms an. Von Anfang an war Rußland nicht eine Nation im westlichen Sinne, sondern ein Kulturkreis, der ethnisch von den Großrussen beherrscht und durch die Symbolik der Nachfolge Roms zu einer politischen Gesellschaft gestaltet wurde. (Fs)

164b Daß die russische Gesellschaft einer eigenen Kategorie angehörte, wurde im Westen nur allmählich erkannt. 1488 versuchte Maximilian I. es noch, Rußland in das westliche politische System einzugliedern, indem er Iwan dem Großen eine Königskrone anbot. Der moskowitische Großfürst lehnte diese Ehrung mit der Begründung ab, seine Autorität stamme von seinen Ahnen, habe den Segen Gottes und bedürfe daher keiner Bestätigung durch den Kaiser des Westens.5 Ein Jahrhundert später, zur Zeit der Türkenkriege, ging Maximilian II. einen Schritt weiter, indem er Iwan IV. die Anerkennung als Kaiser des griechischen Ostens als Gegengabe für Hilfeleistung anbot.6 Wiederum hatte der russische Herrscher kein Interesse, nicht einmal an einer Kaiserkrone, denn zu jener Zeit beschäftigte sich Iwan bereits mit dem Ausbau des russischen Reiches, indem er den Feudaladel beseitigte und durch den neuen Dienstadel, die oprichnina, ersetzte.7 Durch diese blutige Operation drückte Iwan der Schreckliche Rußland den Stempel jener unzerstörbaren Gesellschaftsgliederung auf, die bis zum heutigen Tag Rußlands innerpolitische Geschichte bestimmt hat. Transzendental unterschied sich Rußland von allen westlichen Nationen als der imperiale Repräsentant der christlichen Wahrheit; und durch seine soziale Neugliederung, aus welcher der Zar als der existentielle Repräsentant hervorging, wurde es von der Entwicklung repräsentativer Institutionen im Sinne der westlichen Nationalstaaten radikal abgeschnitten. Napoleon erkannte schließlich das russische Problem, als er 1802 sagte, es gäbe nur zwei Nationen auf der Welt: Rußland und den Westen.8 (Fs)

165a Rußland entwickelte einen Repräsentationstypus sui generis in transzendenter wie existentieller Hinsicht. Die Verwestlichung, die sich seit Peter dem Großen vollzog, bewirkte keine grundlegende Änderung dieses Typus, weil sie hinsichtlich der sozialen Gliederung praktisch ergebnislos blieb. Man kann wohl von einer persönlichen Verwestlichung in den Schichten des hohen Adels im Gefolge der napoleonischen Kriege sprechen, in der Generation eines Tschaadajew, Gagarin und Petscherin. Aber die einzelnen aristokratischen Diener des Zaren wandelten sich nicht in einen Adelsstand, in ein artikuliertes baronagium um. Vielleicht wurde die Notwendigkeit gemeinsamen ständischen Handelns als Voraussetzung für eine politische Verwestlichung nicht einmal erkannt. Sollte aber die Möglichkeit einer Evolution in dieser Richtung jemals bestanden haben, so war sie doch mit dem Dekabristenaufstand von 1825 erledigt. Unmittelbar nach diesem Ereignis kam mit Khomyakow die slawophile antiwestliche Geschichtsphilosophie auf, die mit großer Wirkung auf die Intelligentsia des mittleren Adels die Apokalypse des Dritten Rom zu einer messianischen, eschatologischen Sendung Rußlands für die Menschheit erhob. Bei Dostojewski bewirkte diese Übertragung des Messianismus die Kristallisation zu der seltsamen ambivalenten Vision eines autokratischen, orthodoxen Bußland, das irgendwie die Welt erobern und in dieser Eroberung zur freien Gesellschaft aller Christen im wahren Glauben erblühen würde.9 Diese ambivalente Vision in ihrer säkularisierten Form inspiriert eine russische Diktatur des Proletariats, das durch seine Welteroberung zum marxistischen Reich der Freiheit erblühen wird. Der Versuch einer Artikulierung der russischen Gesellschaft im westlichen Sinne, der unter dem Regime der liberalen Zaren unternommen wurde, ist mit der Revolution von 1917 zu einer Episode der Vergangenheit geworden. Das Volk als Ganzes nimmt wieder die Stellung von Dienern des Zaren im altmoskowitischen Sinne ein, wobei die Kader der kommunistischen Partei seinen Dienstadel darstellen. Die oprichnina, die Iwan der Schreckliche auf der Basis der agrarischen Wirtschaft etabliert hatte, wurde in verstärktem Maße wiedererrichtet auf der Basis einer industriellen Wirtschaft.10 (Fs)

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