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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität 1; Sieg d. Christentums; De-Divinisation - Re-Divinisation; Chiliasmus; Augustinus: neues Konzept d. Geschichte (temporale - spirituale Ordnung); röm: Reich: Repräsentanz der menschlichen Temporalität - Kirche

Kurzinhalt: Augustinus ... lehnte den Buchstabenglauben an das tausendjährige Reich rundweg als "lächerliche Mär" ab und gab die kühne Erklärung, das tausendjährige Reich sei die Herrschaft Christi in seiner Kirche im gegenwärtigen Säkulum, das ...

Textausschnitt: IV. Der Gnostizismus - das Wesen der Modernität

1. Der Sieg des Christentums

153a Der Zusammenstoß zwischen den verschiedenen Typen der Wahrheit im Römischen Reich endete mit dem Sieg des Christentums. Das schicksalhafte Resultat dieses Sieges war die De-Divinisation der temporalen Sphäre der Macht; und wir haben vorausgenommen, daß die spezifisch modernen Probleme der Repräsentation in Zusammenhang mit der Re-Divinisation von Mensch und Gesellschaft stehen würden. Die beiden Ausdrücke bedürfen einer näheren Definition, vor allem da der Begriff der Modernität und in seinem Gefolge die Periodisierung der Geschichte von dem Sinn der Re-Divinisation abhängig sind. Unter De-Divinisation soll also der historische Prozeß verstanden werden, in dessen Verlauf die Kultur des Polytheismus an der Atrophie des Erlebens starb und die menschliche Existenz in der Gesellschaft neugeordnet wurde durch das Erlebnis der Bestimmung des Menschen - durch die Gnade des welttranszendenten Gottes - zum ewigen Leben in seliger Schau. Unter Re-Divinisation soll jedoch nicht ein Wiederaufleben der polytheistischen Kultur im griechischrömischen Sinne verstanden werden. Die Charakterisierung moderner politischer Massenbewegungen als neuheidnisch, die sich einer gewissen Beliebtheit erfreut, ist irreführend, da sie die historische Einmaligkeit der modernen Bewegungen einer oberflächlichen Ähnlichkeit preisgibt. Die moderne Re-Divinisation hat ihren Ursprung vielmehr im Christentum selbst, insofern sie von Komponenten in ihm herrührt, die von der allgemeinen Kirche als häretisch unterdrückt worden waren. Die Natur dieser Spannung innerhalb des Christentums wird daher näher zu bestimmen sein. (Fs) (notabene)

154a Die Spannung war durch die Tatsache gegeben, daß das Christentum historisch als eine messianische Bewegung des Judentums seinen Anfang genommen hatte. Das Leben der urchristlichen Gemeinschaften war in seinem Erleben noch nicht fixiert, sondern schwankte zwischen der eschatologischen Erwartung der Parusie, die das Reich Gottes bringen würde, und der Auffassung von der Kirche als der Apokalypse Christi in der Geschichte. Da die Parusie sich nicht ereignete, entwickelte sich die Kirche von der Eschatologie des Gottesreiches in der Geschichte zur Eschatologie einer transhistorischen, übernatürlichen Vollendung. Im Verlauf dieser Entwicklung löste sich das Wesen des Christentums von seinem historischen Ursprung ab.1 (Fs) (notabene)

154b Diese Ablösung begann schon im Leben Jesu selbst,2 und sie wurde grundsätzlich durch die pfingstliche Herabkunft des Hl. Geistes vollendet. Dennoch wurde die Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Kommens des Reiches Gottes immer aufs neue durch das Erdulden der Verfolgungen bis zur Weißglut gesteigert; und der großartigste Ausdruck des apokalyptischen Pathos, die Offenbarung des Johannes, wurde trotz der Bedenken über ihre Vereinbarkeit mit der Idee der Kirche in den Kanon aufgenommen. Diese Aufnahme hatte schicksalhafte Folgen, denn mit der Offenbarung wurde die revolutionäre Ankündigung des tausendjährigen Reiches anerkannt, in welchem Christus mit seinen Heiligen auf dieser Erde herrschen würde.3 Nicht nur sanktionierte die Kanonisierung die dauernde Wirksamkeit der jüdischen apokalyptischen Literatur im Christentum, sondern sie warf auch unmittelbar die Frage auf, wie der Chiliasmus mit der Idee und der Existenz der Kirche in Einklang gebracht werden könne. Wenn der Gehalt des Christentums lediglich in dem brennenden Wunsch nach Befreiung von der Welt bestand, wenn die Christen in der Erwartung des Endes der unerlösten Geschichte lebten, wenn ihr Schicksal nur durch das Reich im Sinne des 20. Kapitels der Offenbarung erfüllt werden konnte, dann wurde die Kirche zu einer kurzlebigen Gemeinschaft von Menschen herabgewürdigt, die auf das große Ereignis warteten und hofften, es werde sich zu ihren Lebzeiten ereignen. Auf theoretischer Ebene ließ sich das Problem nur durch die gewalttätige Interpretation lösen, die Augustinus in seiner Civitas Dei lieferte. Er lehnte den Buchstabenglauben an das tausendjährige Reich rundweg als "lächerliche Mär" ab und gab die kühne Erklärung, das tausendjährige Reich sei die Herrschaft Christi in seiner Kirche im gegenwärtigen Säkulum, das bis zum Jüngsten Gericht und der Ankunft des ewigen Reiches im Jenseits fortdauern werde.4 (Fs) (notabene)

155a Die augustinische Konzeption der Kirche blieb ohne wesentliche Änderung bis zum Ende des Mittelalters historisch wirksam. Die revolutionäre Erwartung einer Wiederkunft, welche die Struktur der Geschichte auf Erden verklären würde, war als "lächerlich" abgetan; der Logos war in Christus Fleisch geworden; der Mensch hatte die Gnade der Erlösung empf angen; außer der pneumatischen Präsenz Christi in der Kirche gab es keine Divinisation der Gesellschaft. Der jüdische Chiliasmus wurde zusammen mit dem Polytheismus verbannt, so wie der jüdische Monotheismus zusammen mit dem heidnischen metaphysischen Monotheismus verbannt worden war. So verblieb die Kirche allein als der universal-geistige Verband der Heiligen und Sünder, die ihren Glauben an Christus bekennen, als die Repräsentantin der civitas Dei in der Geschichte, als der Blitz aus der Ewigkeit in die Zeit. Und entsprechend verblieb die Machtorganisation der Gesellschaft als die temporale Repräsentation des Menschen in dem spezifischen Sinne einer Repräsentation jenes Teiles der menschlichen Natur, die mit der Verklärung der Zeitlichkeit in die Ewigkeit ihr Ende findet. Die eine christliche Gesellschaft hatte sich in die spirituale und temporale Ordnung artikuliert. In ihrer temporalen Artikulierung anerkannte sie die Conditio humana ohne chiliastische Phantastereien, und zugleich erhöhte sie die natürliche Existenz, indem sie die geistige Bestimmung durch die Kirche repräsentieren ließ. (Fs) (notabene)

156a Das Bild muß abgerundet werden, indem man sich vergegenwärtigt, daß die Idee der temporalen Ordnung durch das römische Reich historisch konkretisiert wurde. Rom wurde in die Idee einer christlichen Gesellschaft hineinkonstruiert dadurch, daß die danielische Prophezeiung der Vierten Monarchie5 auf das imperium sine fine6 als das letzte Reich vor dem Ende der Welt7 bezogen wurde. Parallel zur Kirche als der historisch konkreten Repräsentanz der spiritualen Bestimmung stand das römische Reich als die historisch konkrete Repräsentanz der menschlichen Temporalität. Die Auffassung vom mittelalterlichen Reich als der Fortsetzung Roms war daher mehr als ein vager historischer Nachklang der Vergangenheit; sie war ein Teil der Geschichtsauffassung, nach der das Ende Roms das Ende der Welt im eschatologischen Sinne bedeutete. Was den Ideenbereich anbelangt, so erhielt sich diese Auffassung noch über Jahrhunderte, wenn auch ihre emotionale und institutionelle Basis zerfiel. Die Weltgeschichte wurde gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts von Bossuet in seiner Histoire universelle zum letzten Mal in augustinischer Tradition konstruiert. Der erste Moderne, der es wagte, in direktem Gegensatz zu Bossuet eine Weltgeschichte zu schreiben, war Voltaire.8 (Fs) (notabene)

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