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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Repräsentation im Römischen Reich 4; römische Ziviltheologie (Varro, Cicero; existentielles Problem d. Heidentums); Augustinus, Civitas Dei; civitas terrena - coelestis; Kosmopolis der Philosophen - Imperium Romanum (Vgl. Japan)

Kurzinhalt: ... archaische Erfahrung der Sozialordnung vor ihrer Auflösung durch die Erfahrung der mystischen Philosophen. In den griechischen Quellen kommt man an diese archaische Schicht nie wirklich heran, weil

Textausschnitt: 4. Der existentielle Gehalt der römischen Ziviltheologie

125a Die Kuriosität ist verständlich geworden - aber nur um eine andere an ihre Stelle treten zu lassen. Die christlichen Vorkämpfer in diesem Streit waren nicht an der Rettung heidnischer Seelen interessiert; sie waren in einem politischen Kampf um den öffentlichen Kult des Reiches begriffen. Zwar richtete sich der Appell des Ambrosius an den Christen auf dem Thron, und es kann kein Zweifel über die Aufrichtigkeit seiner Absichten bestehen, wenn wir uns einen Zusammenstoß mit Theodosius im Jahre 390 aus Anlaß des Massakers von Thessalonike vergegenwärtigen. Wenn jedoch der Christ Kaiser ist, so wird seine christliche Amtsführung die Heiden in die gleiche Lage versetzen, in der sich die Christen unter heidnischen Kaisern befanden. Es ist sonderbar, daß sowohl Ambrosius als auch Augustinus, während sie mit Erbitterung den Kampf um die existentielle Repräsentation des Christentums führten, fast gänzlich blind für dieses Problem waren. Nichts schien auf dem Spiel zu stehen als die Wahrheit des Christentums im Gegensatz zur Unwahrheit des Heidentums. Dies besagt nicht, daß ihnen der hiermit verbundene existentielle Gehalt der Problematik überhaupt nicht zum Bewußtsein gekommen wäre. Im Gegenteil, das Faszinierende der Civitas Dei liegt gerade darin, daß Augustinus, wenn er auch offensichtlich das existentielle Problem des Heidentums nicht erfaßte, doch recht beunruhigt darüber war, daß sich hier etwas seinem Griff entzog. Seine Stellungnahme gegenüber Varros theologia civilis ähnelte der eines aufgeklärten Intellektuellen gegenüber dem Christentum - er konnte einfach nicht begreifen, daß ein intelligenter Mensch ernstlich solchen Unsinn behaupten könne. Er zog sich aus der Schwierigkeit durch die Annahme, Varro, der stoische Philosoph, habe nicht an die römischen Gottheiten glauben können, sondern habe sie unter dem Deckmantel einer ehrerbietigen Darstellung der Lächerlichkeit preisgeben wollen.1 Es wird nötig sein, Varro selbst sowie seinen Freund Cicero sprechen zu lassen, um den Punkt herauszufinden, der Augustinus entgangen war. (Fs)

127a Der unfaßliche Punkt wurde von Augustinus selbst mit großer Sorgfalt dargelegt; er beunruhigte ihn offenbar sehr. Varro hatte in seinen Antiquitates zuerst die res humanae und dann erst die res divinae Roms behandelt.2 Als erstes muß die Stadt existieren; dann erst kann sie an die Institution des Kultischen herangehen. "Wie der Maler vor dem Gemälde da ist und der Architekt vor dem Gebäude, so sind die Städte früher da als ihre Institutionen.3 Diese Auffassung Varros, daß die Götter von der politischen Gesellschaft eingesetzt worden seien, stieß bei Augustinus auf Unverständnis und Empörung. Er seinerseits beharrte darauf, daß "wahre Religion nicht von irgendeiner civitas terrena eingesetzt" sei, sondern daß der wahre Gott, der Inspirator der wahren Religion, "die civitas coelestis eingesetzt" habe.4 Varros Standpunkt schien besonders verwerflich, weil die menschlichen Dinge, denen er den Vorrang einräumte, nicht allgemein menschlich, sondern nur römisch waren.5 Überdies verdächtigte Augustinus ihn der Täuschung, weil Varro zugab, er würde res divinae an die erste Stelle gesetzt haben, wenn er die Absicht gehabt hätte, die Natur der Götter erschöpfend zu behandeln,6 und weil er ferner zu verstehen gab, daß in Religionsfragen vieles wahr sei, was das Volk nicht wissen solle, und vieles falsch, was das Volk nicht ahnen dürfe.7 (Fs)

128a Was Augustinus nicht verstehen konnte, war die Kompaktheit des römischen Erlebens, die untrennbare Gemeinschaft von Göttern und Menschen in der historisch konkreten civitas, die Gleichzeitigkeit der menschlichen und göttlichen Einsetzung einer Sozialordnung. Für ihn hatte sich die Ordnung der menschlichen Existenz bereits in die civitas terrena der Profangeschichte und die civitas coelestis göttlicher Einsetzung geschieden. Das Verständnis wurde auch nicht durch die anscheinend etwas primitiven Formulierungen des Enzyklopädisten Varro erleichtert. Der geschmeidigere Cicero äußerte die gleichen Überzeugungen wie sein Freund Varro, doch mit mehr begrifflicher Schärfe, durch die Gestalten seiner De natura deorum, insbesondere durch den princeps civis und pontitex Cotta. In der Debatte über die Existenz der Götter stehen sich die Ansichten des Philosophen und des römischen princeps civis gegenüber. Im Gegensatz des princeps philosophiae Sokrates8 zum princeps civis Cotta9 zeigt Cicero subtil die unterschiedlichen Quellen der Autorität auf: die auctoritas philosophi stößt mit der auctoritas majorum10 zusammen. Der Würdenträger des römischen Kultes ist nicht geneigt, die unsterblichen Götter und ihre Verehrung anzuzweifeln, gleichgültig was andere sagen mögen. In religiösen Fragen folgt er den Priestern, die ihm im Amt vorangegangen sind, und nicht den griechischen Philosophen. Die Auspizien des Romulus und die Riten des Numa legten die Grundlagen des Staates, der niemals seine Größe hätte erlangen können, ohne sich die Unsterblichen durch den Ritus geneigt zu machen.11 Er anerkennt die Götter auf Grund der Autorität der Vorfahren, aber er ist bereit, die Meinung anderer anzuhören. Und nicht ohne Ironie lädt er Balbus ein, die Gründe, rationes, für seine religiösen Überzeugungen darzulegen, die er als Philosoph ja haben müsse, während er, der Pontifex, verpflichtet sei, seinen Vorfahren ohne Räsonnement zu glauben.12 (Fs)

129a Die Darlegungen Varros und Ciceros sind für den Theoretiker unschätzbare Dokumente. Die römischen Denker sind in ihrem politischen Mythos fest verwurzelt, zugleich war ihnen jedoch durch ihre Berührung mit der griechischen Philosophie diese Verwurzelung bewußt. Die Berührung hat die Festigkeit ihrer Gesinnung nicht beeinträchtigt, sondern sie lediglich mit den Mitteln ausgestattet, ihren Standpunkt klarer zu machen. Die konventionelle Darstellung Ciceronischer Ideen übersieht leicht, daß sich in seinem Werk etwas bedeutend Interessanteres finden läßt als eine Variante der Stoa, etwas, was keine griechische Quelle uns zu geben vermag, nämlich die archaische Erfahrung der Sozialordnung vor ihrer Auflösung durch die Erfahrung der mystischen Philosophen. In den griechischen Quellen kommt man an diese archaische Schicht nie wirklich heran, weil die frühesten literarischen Dokumente, die Dichtungen des Homer und Hesiod, schon großartig freie Neugestaltungen mythischer Stoffe sind - im Falle Hesiods sogar in bewußter Opposition einer von ihm als Individiuum gefundenen Wahrheit gegen die Lüge, das pseudos des älteren Mythos. Vielleicht waren die Wirren im Gefolge der dorischen Invasion die Ursache dafür, daß die Geschlossenheit der griechischen Sozialexistenz soviel früher zerbrach, ein Schock, wie ihn Rom nie erlitt. Jedenfalls war Rom ein ardiaisches Überbleibsel in der hellenistischen Zivilisation des Mittelmeerraums, und dies in noch verstärktem Maße, als dieser Raum sich fortschreitend christianisierte. Man könnte die Situation etwa mit der Rolle Japans in einer Kulturwelt, die von westlichen Ideen beherrscht wird, vergleichen. (Fs) (notabene)

130a Römer wie Cicero verstanden das Problem sehr wohl. In seinem Werk De re publica zum Beispiel stellte er absichtlich den römischen Stil politischer Ordnung dem griechischen gegenüber. In der Debatte über die beste politische Ordnung (status civitatis) nimmt wiederum ein princeps civis, Scipio, gegen Sokrates Stellung. Scipio weigert sich, in der Art des platonischen Sokrates über die beste Ordnung zu diskutieren. Er will nicht eine "fiktive" Ordnung vor seinen Zuhörern aufbauen, sondern zieht es vor, einen Bericht über die Ursprünge Roms zu geben.13 Die Ordnung Roms ist jeder anderen überlegen - dieses Dogma wird nachdrücklich als die Voraussetzung der Debatte aufgestellt.14 Die Diskussion selbst kann sich uneingeschränkt über alle griechischen Wissensgebiete erstrecken, aber dieses Wissen ist nur insofern von Bedeutung, als es sich nutzbringend auf die Probleme römischer Ordnung anwenden läßt. Den höchsten Rang nimmt zwar der Mann ein, der den Traditionen seiner Väter noch die "fremdländische Gelehrsamkeit" (adventiciam doctrinam) hinzufügen kann. Gilt es aber zwischen den beiden Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu wählen, so ist die vita civilis des Staatsmannes der vita quieta des Weisen vorzuziehen.15 (Fs) (notabene)

131a Der Denker, der es fertigbringt, von der Philosophie als von einer "fremdländischen Gelehrsamkeit" zu sprechen, die zwar anzuerkennen sei, aber doch nur als Würze, die der geistigen Überlegenheit noch die letzte Vollendung gibt, hat, wie man wohl sagen darf, weder die geistige Revolution, die sich in der Philosophie ausdrückte, noch die Natur ihres universalen Anspruchs auf den Menschen verstanden. Die sonderbare Weise, in der Cicero seine Anerkennung der griechischen Philosophie mit belustigter Geringschätzung vermischt, läßt erkennen, daß die Wahrheit der Theorie, wenn sie auch als Erweiterung des intellektuellen und sittlichen Horizontes aufgefaßt wurde, dennoch keine existentielle Bedeutung für einen Römer haben konnte. Rom war bis hinunter zu den Einzelheiten des täglichen Lebens das Rom seiner Götter. Eine erkenntnismäßige Teilnahme an der geistigen Revolution der Philosophie würde das Eingeständnis bedingt haben, daß das Rom der Vorfahren gestorben und eine neue Ordnung im Entstehen sei, in welche die Römer eingehen müßten - so wie die Griechen, gewollt oder ungewollt, in die imperialen Gebilde Alexanders und der Diadochen und schließlich Roms eingehen mußten. Das Rom der Generation Ciceros und Caesars war einfach noch nicht so weit, wie es das Athen des vierten vorchristlichen Jahrhunderts gewesen war, das Platon und Aristoteles hervorbrachte. Die Substanz Altroms behielt ihre Wirksamkeit bis tief in die Kaiserzeit hinein, und sie schwand merklich erst in den Wirren des dritten nachchristlichen Jahrhunderts. Nun erst war für Rom die Zeit gekommen, in das von ihm selbst geschaffene Imperium einzugehen, und nun erst trat der Kampf, den die verschiedenen in Frage kommenden Typen der Wahrheit miteinander austrugen - die Philosophien, die orientalischen Kultreligionen und das Christentum - in seine entscheidende Phase. Diese forderte von dem existentiellen Repräsentanten, dem Kaiser, die Entscheidung, welche transzendente Wahrheit er vertreten würde, nachdem der Mythos Roms seine ordnende Kraft verloren hatte. Cicero kannte solche Probleme noch nicht, und als er ihnen in seiner "fremdländischen Gelehrsamkeit" begegnete, bog er die unerbittliche Drohung ab: den stoischen Gedanken, daß jeder Mensch zwei Länder habe, die Polis seiner Geburt und die Kosmopolis, wandelte er geschickt in den Gedanken um, jeder Mensch habe in der Tat zwei Vaterländer, nämlich seinen ländlichen Geburtsort - für Cicero sein Arpinum - und Rom.16 Die Kosmopolis der Philosophen war für Cicero in historischer Existenz verwirklicht; sie war das Imperium Romanum.17 (Fs) (notabene)

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