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Autor: Ratzinger, Josef

Buch: Einführung in das Christentum

Titel: Einführung in das Christentum

Stichwort: Glaube, Grenze d. Wirklichkeitsverständnisses 2; Verum quia faciendum; Wende zum technischen Denken; Primat des Machbaren vor dem Gemachten; das Faktum als Wiederholbares (techne); Kybernetik

Kurzinhalt: ... Zuwendung zur Faktizität in der Form des wiederholbaren Experiments ergibt, als der einzig wirkliche Träger zuverlässiger Gewissheit ... Die Reduktion des Menschen auf ein »Faktum« ist die Voraussetzung für sein Verständnis als ein Faciendum ...

Textausschnitt: b) Das zweite Stadium: Die Wende zum technischen Denken.

56a »Verum quia factum«, dieses Programm, das den Menschen auf die Geschichte als Ort der Wahrheit weist, konnte für sich allein freilich nicht genügen. Zur vollen Wirkung kam es erst, als es sich mit einem zweiten Motiv verband, das, wiederum gut 100 Jahre später, Karl Marx formuliert hat in seinem klassischen Satz: »Die Philosophen haben bisher die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.« Die Aufgabe der Philosophie wird damit nochmal grundlegend neu bestimmt. In die Sprache der philosophischen Tradition übertragen hieße diese Maxime, dass an die Stelle des »Verum quia factum« - erkennbar, wahrheitsträchtig ist das, was der Mensch gemacht hat und was er nun betrachten kann - das neue Programm tritt »Verum quia faciendum« - die Wahrheit, um die es fortan geht, ist die Machbarkeit. Nochmal anders gewendet: Die Wahrheit, mit der der Mensch zu tun hat, ist weder die Wahrheit des Seins noch auch letztlich die seiner gewesenen Taten, sondern es ist die Wahrheit der Weltveränderung, der Weltgestaltung - eine auf Zukunft und Aktion bezogene Wahrheit. (Fs)

57a »Verum quia faciendum« - das will sagen, dass die Herrschaft des Faktum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße abgelöst wird durch die Herrschaft des Faciendum, des zu Machenden und Machbaren, und dass damit die Herrschaft der Historie verdrängt wird durch diejenige der Techne. Denn je mehr der Mensch den neuen Weg beschreitet, sich auf das Faktum zu konzentrieren und darin Gewissheit zu suchen, desto mehr muss er auch erkennen, dass sich selbst das Faktum, sein eigenes Werk, ihm weitgehend entzieht. Die Belegbarkeit, die der Historiker anstrebt und die zunächst im 19. Jahrhundert als der große Triumph der Historie gegenüber der Spekulation erscheint, behält immer etwas Fragwürdiges an sich, ein Moment der Rekonstruktion, der Deutung und der Zweideutigkeit, sodass schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die Historie in eine Krise geriet und der Historismus mit seinem stolzen Wissensanspruch fragwürdig wurde. Immer deutlicher zeigte sich, dass es das reine Faktum und seine unerschütterliche Sicherheit gar nicht gibt, dass auch im Faktum jedesmal noch das Deuten und seine Zweideutigkeit enthalten sind. Immer weniger konnte man sich verbergen, dass man abermals nicht jene Gewissheit in Händen hielt, die man sich zunächst, in der Abwendung von der Spekulation, von der Tatsachenforschung versprochen hatte. (Fs)

57b So musste sich mehr und mehr die Überzeugung durchsetzen, dass wirklich erkennbar dem Menschen zu guter Letzt nur das sei, was wiederholbar ist, was er sich im Experiment jederzeit neu vor Augen stellen kann. Alles, was er nur in sekundären Zeugnissen zu sehen vermag, bleibt Vergangenheit und ist trotz aller Belege nicht vollends erkennbar. Damit erscheint die naturwissenschaftliche Methode, die sich aus der Verbindung von Mathematik (Descartes!) und Zuwendung zur Faktizität in der Form des wiederholbaren Experiments ergibt, als der einzig wirkliche Träger zuverlässiger Gewissheit. Aus der Verbindung von mathematischem Denken und Faktendenken resultiert der von der Naturwissenschaft bestimmte geistige Standort des modernen Menschen, der damit Zuwendung zur Wirklichkeit, insofern sie Machbarkeit ist, bedeutet1. Das Faktum hat das Faciendum, das Gemachte hat das Machbare und Wiederholbare, Nachprüfbare aus sich entlassen und ist nun um seinetwillen da. Es kommt zum Primat des Machbaren vor dem Gemachten, denn in der Tat: Was soll der Mensch schon mit dem bloß Gewesenen? Er kann seinen Sinn nicht darin finden, sich zum Museumswärter seiner eigenen Vergangenheit zu machen, wenn er seine Gegenwart bewältigen will. (Fs)

58a Damit hört, wie vorher die Historie, nun die Techne auf, eine untergeordnete Vorstufe der geistigen Entfaltung des Menschen zu sein, auch wenn sie in einem ausgesprochen geisteswissenschaftlich orientierten Bewusstsein noch immer einen gewissen Ruch von Barbarei behält. Von der geistigen Gesamtsituation her ist die Lage grundlegend geändert: Techne ist nicht länger ins Unterhaus der Wissenschaften verbannt oder richtiger: das Unterhaus ist auch hier das eigentlich Bestimmende geworden, vor dem das »Oberhaus« nur noch als ein Haus von adligen Pensionären erscheint. Techne wird zum eigentlichen Können und Sollen des Menschen. Was bis dahin zuunterst stand, steht jetzt zuoberst; zugleich verschiebt sich noch einmal die Perspektive: War der Mensch zuerst, in Antike und Mittelalter, dem Ewigen zugewandt gewesen, dann in der kurzen Herrschaft des Historismus dem Vergangenen, so verweist ihn nun das Faciendum, die Machbarkeit, auf die Zukunft dessen, was er selbst erschaffen kann. Wenn er vordem, etwa durch die Ergebnisse der Abstammungslehre, resigniert festgestellt haben mochte, dass er von seiner Vergangenheit her nur Erde, bloßer Zufall der Entwicklung ist, wenn er von solcher Wissenschaft desillusioniert war und sich degradiert erschien, so braucht ihn das jetzt nicht mehr zu stören, denn nun kann er, von wo auch immer er kommt, entschlossen seiner Zukunft entgegensehen, um sich selbst zu dem zu erschaffen, was er will; es braucht ihm nicht mehr als Unmöglichkeit zu erscheinen, sich selbst zum Gott zu erschaffen, der nun als Faciendum, als das Machbare, am Ende und nicht mehr als Logos, als Sinn, am Anfang steht. Das wirkt sich übrigens heute bereits ganz konkret in der Form der anthropologischen Fragestellung aus. Wichtiger als die Abstammungslehre, die praktisch schon wie etwas Selbstverständliches hinter uns liegt, erscheint heute bereits die Kybernetik, die Planbarkeit des neu zu erschaffenden Menschen, sodass auch theologisch die Manipulierbarkeit des Menschen durch sein eigenes Planen ein wichtigeres Problem darzustellen beginnt als die Frage der menschlichen Vergangenheit - obwohl beide Fragen nicht voneinander trennbar sind und in ihrer Richtung sich weithin gegenseitig bestimmen: Die Reduktion des Menschen auf ein »Faktum« ist die Voraussetzung für sein Verständnis als ein Faciendum, das aus Eigenem in eine neue Zukunft geführt werden soll. (Fs) (notabene)

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