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Autor: Scheffczyk, Leo

Buch: Katholische Glaubenswelt

Titel: Katholische Glaubenswelt

Stichwort: Formelemente d. Katholischen 3; "et - et" vs. sola fide, sola gratia; P. Tillich; protestantisches "allein" nur als Paradox fassbar; These vom "unfreien Willen" (Luther); Bild des "zentrierenden" Denkens

Kurzinhalt: Es geht dieser mit einem christlichen Radikalismus vorgetragenen Theologie nicht um die Analogie zwischen Gott und Welt, sondern um den Gegensatz, nicht um das "et - et", sondern um das "sola", in der Form des "sola fide", des "sola gratia" und des ...

Textausschnitt: c. Das reformatorische "allein"

39c Das Fließende oder Subtile der Bestimmung solcher Denkgesetzlichkeit des "Katholischen" lässt sich am Vergleich mit der andersgearteten evangelischen Typik verdeutlichen. Dieser andersgeartete Ansatz, der zuletzt von dem reformatorischen "allein" bestimmt wird, lässt sich unter den neueren Theologen besonders deutlich bei K. Barth nachweisen. Vor allem die erste Periode des "Römerbriefes"1 zeigt eine strenge Distanz zu allem Analogie-, Polaritäts- und Kontinuitätsdenken. Hier herrscht das Pathos der Ausschließlichkeit vor, des Abstandes zwischen Geschöpf und Schöpfer, der Diskontinuität, durch welche der unendliche qualitative Unterschied zwischen Gott und Mensch, Gnade und Natur, Offenbarung und natürlichem Denken überscharf hervortritt. Der Mensch ist in dieser Betrachtungsweise nur noch als "Negativum" interessant, als leerer "Einschlagtrichter" für die Botschaft Gottes. Man kann beinahe sagen, dass alles Menschliche und Geschöpfliche geradezu schon uninteressant wird. Es geht dieser mit einem christlichen Radikalismus vorgetragenen Theologie nicht um die Analogie zwischen Gott und Welt, sondern um den Gegensatz, nicht um das "et - et", sondern um das "sola", in der Form des "sola fide", des "sola gratia" und des "solus Christus". (Fs) (notabene)

40a Gerade im Hinblick auf dieses "sola" ist der reformatorische Denkansatz in seiner Eigentümlichkeit, aber auch in seinem Unterschied zum Katholizismus deutlich zu erfassen. Das ist aber nicht nur an K. Barth und der von ihm vertretenen Theologenrichtung zu ersehen. Es zeigt sich auch an ganz anders gearteten theologischen Entwürfen, die freilich wegen ihrer Vielfalt und ihrer Differenziertheit nicht vollständig erfasst werden können. Und doch lässt sich - wenn auch nur beispielhaft - zeigen, dass sich der gleiche Rhythmus oder Duktus des Denkens, welches vom "allein" ausgeht und wieder zu ihm zurückmündet, selbst bei sonst durchaus verschiedenartigen theologischen "Systemen" findet. Er muss nicht immer so klar und ohne jede Einschränkung zum Ausdruck gebracht werden wie bei H. Mulert: "Protestantismus ist Selbständigkeit des Glaubens und Autonomie des an Gottes Wort gebundenen Gewissens"2 und wie bei E. Hirsch: Protestantismus ist die "Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott"3. Der Ansatz beim "allein" tritt auch in zurückhaltenderer Form und doch unverfälscht hervor, so etwa bei R. Hermann (in der Auseinandersetzung mit J. Lortz), wo einmal gesagt wird: "Was schließlich die 'Und' [in den Thesen von J. Lortz] betrifft, so sind sie in der Tat 'katholisch'." Nun aber werden diese katholischen "Und-Verbindungen" im Einzelnen kritisiert: "Das absolute Gotteswort 'und' die dogmatische Tradition? Aber die letztere ist, wenigstens nach evangelischem Verständnis, menschliche Überlieferung und Redaktion."4 Und weiter: "Die Freiheit eines Christenmenschen 'und' die Autorität... der Kirche? ... Endlich Gewissensreligion 'und' Bindung? Wir fragen: Bindung woran? Jedenfalls doch wohl an Instanzen. Solchen gegenüber aber muss das Gewissen gerade seine Selbständigkeit, bei allem Sinn für ihre Bedeutung, wahren." Und "was die Tradition anlangt, so leben wir gewiss nicht ohne eine solche. Aber sie ist mit der katholischen dem Inhalt nach nur zum Teil dieselbe und nach der autoritativen Geltung verschieden. Was wir meinen, ist eine Tradition in evangelischem Sinne."5 In diesen Formulierungen ist sowohl die Kritik am katholischen "und" wie das Beharren auf dem evangelischen "allein" nicht undifferenziert und einlinig vorgetragen. (Das Ganze ist zugleich ein Beweis für die Subtilität der Auseinandersetzung und der Begründungen.) Aber es wird auch hier klar, dass der Denkansatz schließlich doch das "allein" zur Dominante hat. (Fs)

41a Ähnliches trägt sich auch bei dem einflussreichen R. Bultmann zu, dessen ganzes Entmythologisierungs- und Existenzialisierungsprogramm als den eigentlichen "cantus firmus" das reformatorische "allein" durchscheinen lässt. So ist auch seine eigene Positionsbestimmung zu verstehen, die er dahingehend umschrieb, dass sein Programm auf der Lehre Luthers, auf der Rechtfertigung "allein aus dem Glauben" beruhe und nur deren "konsequente Durchführung für das Gebiet des Erkennens"6 sei, ein eindeutiges Bekenntnis zum "allein" als Prinzip und Ansatz theologischen Erkennens. (Fs) (notabene)
41b In einem nochmals abgewandelten theologischen Konzept bezeugt P. Tillich die denkerische Ursprünglichkeit und Prinzipienhaftigkeit des "allein" für den protestantischen Glaubensweg. Die hier gebrauchten Formeln sind sogar besonders eindeutig, so etwa die folgende, die er im Anschluss an M. Kähler entwickelt: "Kählers Kerngedanke war die Rechtfertigung durch den Glauben, der Gedanke, der den Protestantismus vom Katholizismus trennt und der das sogenannte materiale Prinzip der protestantischen Kirche wurde ..."7 Demzufolge muss das protestantische Denken das katholische Glaubensverständnis ("vertreten durch die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes") als "Heteronomie" ansehen,8 dem aber (wiederum bezeichnend für die Differenziertheit der Position) nicht einfach eine protestantische "Autonomie" entgegengestellt wird, sondern eine "Theonomie". Dieser Ausdruck meint das Bewusstsein von einer letzten Einheit alles Wirklichen und alles Denkens in Gott und von Gott her, so dass es "keinen Raum neben dem Göttlichen [gibt], ... keinen möglichen Atheismus, ... keine Mauer zwischen dem Religiösen und dem Nichtreligiösen".9 Auch hier beweist sich das "allein" als die das religiöstheologische Denken ursprünglich bestimmende Kraft, das von dem Anspruch auf Einheit und Ausschließlichkeit getragen und beflügelt wird und das bei einer Doppelheit oder Polarität nicht stehen bleiben kann. (Fs)

42a Dabei ist gerade an P. Tillich zu ersehen, dass in diesem protestantischen Denkansatz die Vielfalt und Vielschichtigkeit der Wirklichkeit nicht verkannt wird. Darum kommt der Zug zur Einheit des "allein" auch nicht aus dem Zwang eines schlichten, naiven Denkens, das Differenzierungen und Spannungen nicht ertragen kann. Vielmehr ist hier das Gegenteil richtig. Deshalb darf man den zur Unterscheidung herangezogenen protestantischen Denkansatz auch nicht so verstehen, als ob sich hier "katholische Fülle" und "protestantische Einseitigkeit" (das hieße dann gleich "Häresie") gegenüberstünden; denn was das evangelische Glaubensdenken damit erstrebt, ist nichts weniger als eine ebensolche Fülle, die eben in der Reduktion, Konzentration und Verwesentlichung der immer als Gefahr empfundenen Dualität oder Vielheit besteht. Aber hieran wird schließlich ein weiteres charakteristisches Merkmal sichtbar, welches darin besteht, dass diese überkonzentrierte Einheit des "allein" nur als Paradox oder als Einheit im Widerspruch erfasst werden kann. Nicht zufällig fällt in diesem Zusammenhang bei Tillich der Begriff des Paradoxen, das sich bei manchen evangelischen Theologen bis hin zum Eingeständnis eines Absurden steigern kann. So erklärt in einer neueren Stellungnahme zum lutherischen Grundaxiom von der Rechtfertigung allein aus Gnade und zu der damit zusammenhängenden These vom "unfreien Willen" (De servo arbitrio) Kl. Schwarzwäller: "Luthers Auskunft erscheint nicht nur als absurd, sie ist es ... Denn es ist die pure Absurdität, dass eine Forderung [nämlich die nach Erfüllung des Gesetzes] die Unmöglichkeit des Verlangten konsumtiv voraussetzte. Luther wahrt damit die Absurdität des Evangeliums, das von der solchermaßen unerträglich und sinnlosen Forderung befreit zum Leben in der Partnerschaft Gottes."10 (Fs) (notabene)

42b An dieser Stelle kann nun aber wohl auch dies sichtbar werden, dass der protestantische Denkansatz seine Konzentration und seine auf letzte Einheit zielende Kraft doch nur unter Einbeziehung und unter Offenlassen eines Widerspruches gewinnt, d. h. dass er den Ausgleich zwischen den vielfältigen Elementen gerade nicht findet, sondern ihn in Worten oder als Verheißung nur postuliert und aus diesem Postulate lebt. Daraufhin ist die letzte Frage möglich, ob ein vom Pathos des "allein" genährtes Denken trotz aller intendierten Berücksichtigung der Dualität oder Vielheit am Ende nicht doch eine letzte Dissonanz und einen Zwiespalt zugeben und geradezu neu aufreißen muss: die Dissonanz zwischen dem Wort und dem Gedanken einerseits und der Wirklichkeit andererseits, die sich dem "allein" gegenüber offensichtlich versperrt. (Fs) (notabene)

42c Aber in diesem Zusammenhang geht es nicht um inhaltliche Vergleiche oder gar um Werturteile, sondern um die Erkenntnis der Verschiedenheit im Denkansatz und in der Denkstruktur, die freilich nachfolgend auch für das Verständnis des Inhaltlichen m von Bedeutung ist. Will man diese Struktur reformatorischen Denkens auf einen bildhaften Ausdruck bringen, den Unterschied gegenüber dem katholischen Denkansatz verdeutlichen, so darf man zum Bild des "zentrierenden" Denkens greifen. Während das "elliptische Denken" immer um zwei Brennpunkte kreist, kennt das "zentrierende" Denken nur die Mitte, das Zentrum, die Wurzel. Es geht immer nur von diesem einen Zentrum aus und führt auch immer wieder zu ihm zurück. Das lässt das protestantische Denken im Selbstverständnis der evangelischen Theologie immer auf das Wesen dringen unter Absehen von den angeblichen Unwesentlichkeiten, es lässt es ferner (durchaus im guten Sinne) radikal, entschieden, kompromisslos erscheinen, weil es immer um das Ganze geht und dieses Ganze gleichsam in einem einzigen Punkt komprimiert wird. Im Vergleich dazu muss die katholische Denkgesetzlichkeit als vieldeutig, als kompliziert und irgendwie verschnörkelt erscheinen oder als mit unwesentlichen Ornamenten versetzt, die für das Wesen nichts austragen, sondern es eher verstellen. (Fs)

43a Zu dieser Nichteindeutigkeit rechnet das reformatorische Denken am Katholizismus z. B. auch die immer wieder unternommene Berufung auf das Geheimnis, auf das Mysterium des Glaubens, auf die letztlich im Unsagbaren verschwebende Einheit des "et - et". In dieser Hinsicht ist der Protestantismus merkwürdigerweise (was man angesichts mancher äußerer Fakten, die dagegen zu sprechen scheinen, nicht gleich einsehen wird) viel doktrinärer als das katholische Glaubensdenken; denn die Notwendigkeit des "sola" muss als Notwendigkeit immer ausgewiesen werden. Das kann nicht im Geheimnis oder im mystischen Dunkel bleiben. Deshalb eignet dem reformatorischen Denken in allen Fragen, die es aufgreift, ein Hang zum Rationalen und zum Doktrinären. Diese doktrinäre Haltung zeigt sich auch daran, dass es wenig vom "Mysterium" spricht als vielmehr vom "Paradox" des Glaubens.11 Das Paradoxe ist etwas Seltsames, das wenig Wahrscheinliche, aber deshalb doch in sich durchaus vernünftig und rational. Für Bultmann ist z. B. die Tatsache, dass sich die christliche Heilsgewissheit und das neue existentielle Selbstverständnis ausgerechnet und allein an Jesus von Nazaret anschließt, das einzige Paradox des Christentums. Aber das ist kein Geheimnis, sondern nur etwas Unerwartetes, etwas gegen die allgemeine menschliche Auffassung Gerichtetes. (Fs)

43b Das in diesem Denkansatz eingestiftete "Paradox" erweist sich bei genauerem Hinblick freilich als ein herausforderndes, das Denken geradezu anstachelndes Moment. Es treibt das Denken des Glaubens zum immer neuen Nachweis seiner Rationalität und der Geltung des "allein". Das "allein" kann dann nicht nur mit immer neuen und anderen Inhalten erfüllt werden (die Offenbarung bei K. Barth; die Existenz bei R. Bultmann; der weltliche Glaube bei D. Bonhoeffer), sondern muss auch in seinem Anspruch immer neu begründet werden (gefühlsmäßig bei Fr. Schleiermacher; existentialistisch bei R. Bultmann; idealistisch bei den modernen geschichtsphilosophischen Konzeptionen: J. Moltmann). Das führt zu einem Pluralismus der evangelischen Theologien, die E. Käsemann durch den Hinweis auf das Wort illustrierte: "Siehe, die Füße derer, die deinen Mann begruben, sind vor der Tür und werden dich hinaustragen" (Apg 5,9).12
44a Daran aber zeigt sich abschließend, dass die Radikalität dieses Prinzips und damit die Wesentlichkeit dieses Denkens geradezu auch ins Gegenteil umschlagen und sich zum anderen Extrem hinwenden kann, wie man beim reformatorischen Denken ja immer das Hin und Her zwischen den Extremen als charakteristisch herausgefunden hat. So kann dann trotz des Zuges zum Wesentlichen, zum Einen und Ausschließlichen des "allein" auch der Eindruck des genauen Gegenteils entstehen, nämlich der Willkür, der Beliebigkeit, des Experimentellen und Spielerischen, das gerade das Unwesentliche wäre. Das aber sind Gefährdungen, die an sich jeder lebendigen Gestalt und jedem Denktypus eignen. Auch der katholische Denkansatz wäre gefährdet, wenn ihm nicht ein neues wesentliches Merkmal hinzugefügt würde. (Fs)

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