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Autor: Scheler, Max

Buch: Abhandlungen und Aufsätze

Titel: Abhandlungen und Aufsätze

Stichwort: Moderne Menschenliebe 2; Ressentiment; Protest gegen Minderheiten mit Werten; Hass auf Gott; Scheinform d. Gotteshasses

Kurzinhalt: Überall wo ich Zeugnisse dieses Gefühls historisch antreffe, finde ich jene geheime Lust, Anklage erheben zu können gegen die göttliche Regierung ...

Textausschnitt: 183a [98a] Fr. Nietzsche lebte in einer Zeit, da gerade diese derbsten Formulierungen und Ausgeburten der »modernen allgemeinen Menschenliebe« Ansehen und Beifall fanden. Und man versteht hieraus seinen Kampf gegen diese Bewegung! (Fs)

183b Denn darin hat er unsers Erachtens recht, wenn er diese Idee besonders in der Richtung, in der sie sich in der modernen sozialen Bewegung entfaltet hat, — nicht aber die christliche Liebesidee — auf historisch cumuliertes und durch Tradition wachsendes Ressentiment zurückführt und ein Anzeichen und einen Ausdruck niedergehenden Lebens in ihr erblickt. Der Kern in der Bewegung der modernen allgemeinen Menschenliebe ist schon dadurch als auf Ressentiment beruhend erkennbar, daß diese sozial-historische Gemütsbewegung durchaus nicht auf einer ursprünglichen, spontanen Hinbewegung zu einem positiven Werte beruht, sondern auf einem Protest, einem Gegenimpuls (Haß, Neid, Rachsucht usw.) gegen herrschende Minoritäten, die man im Besitze positiver Werte weiß. Die »Menschheit« ist nicht das unmittelbare [183] Objekt der Liebe in ihr (schon da nur Anschauliches die Liebe bewegen kann), sondern sie wird in ihr bloß ausgespielt gegen ein Gehaßtes. An erster Stelle ist diese Menschenliebe die Ausdrucksform einer verdrängten Ablehnung, eines Gegenimpulses gegen Gott1). Sie ist die Schein- form eines verdrängten Gotteshasses! Immer wieder führt sie sich mit der Wendung ein, es sei doch »nicht genug Liebe in der Welt«, als daß man einen Teil noch an außermenschliche Wesen abgeben könnte — eine echte von Ressentiment diktierte Wendung! Gefühle der Erbitterung gegen die Idee des höchsten Herrn und jenes Nichtertragenkönnen des »allsichtigen Auges«, Aufstandsimpulse gegen »Gott« auch als der symbolischen Einheit und Zusammenfassung aller positiven Werte und ihrer berechtigten Herrschaft ist in ihr das erste; die »liebevolle« Herabbeugung zum Menschen als Naturwesen, als dem Wesen, das durch seinen Schmerz, durch sein Übel und Leid an sich schon einen freudig ergriffenen Einwand gegen Gottes »weise und gütige Regierung« bildet — das zweite! Überall wo ich Zeugnisse dieses Gefühls historisch antreffe, finde ich jene geheime Lust, Anklage erheben zu können gegen die göttliche Regierung2). [184] Da die positivsten Werte schon durch die Macht der Tradition — auch in den Ungläubigen — in der Idee Gottes verankert sind, so ist es auch verständlich und notwendig, daß der Blick und das Interesse dieser auf Protest und Ablehnung begründeten »Menschenliebe« zuvörderst auf die niedrigsten und tierischen Seiten der Menschennatur — und diese sind es ja zunächst, die »alle« Menschen gemein haben — fällt. Diese Tendenz gewahren wir deutlich in den Gelegenheiten, bei denen noch heute auf das »Menschsein« eines Individuums wörtlich hingewiesen wird. Das geschieht jedenfalls viel seltener, wenn jemand etwas Gutes und Vernünftiges getan hat oder etwas, was ihn vor anderen im positiven Sinne aus zeichnet, als in solchen Fällen, da man ihn entschuldigen will gegen einen Vorwurf oder eine Anklage: »Er ist eben auch ein Mensch«, »Menschen sind wir alle«! »Irren ist menschlich« usw. Wer sonst nichts ist und hat, ist in der Gefühlstendenz dieser für die moderne Menschenliebe charakteristischen Wendungen immer noch »ein Mensch«. Schon diese Richtung der Menschenliebe auf das Gattungsmäßige [185] macht sie zugleich wesentUch auf das Niedrige gerichtet, auf das, was »verstanden« und »entschuldigt« werden muß. Wer sähe aber darin nicht den im geheimen glimmenden Haß gegen die positiven höheren Werte, die eben wesenhaft nicht an das »Gattungsmäßige« gebunden sind, und der sich unter dieser »milden«, »verstehenden«, »menschlichen« Haltung in der Tiefe verbirgt? (Fs)

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