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Autor: Balthasar, Hans Urs von

Buch: Theologie der Geschichte

Titel: Theologie der Geschichte

Stichwort: c. Das Einmalige als geschichtliche Norm

Kurzinhalt:

Textausschnitt: c. Das Einmalige als geschichtliche Norm

c. Das Einmalige als geschichtliche Norm
17a Die Formel, die sich ergab, ist ebenso hart wie geheimnisvoll. Hart ist sie, weil sie alle innerweltliche Norm, ihre Geltung, ihre Anwendung und Erforschung dem «individuellen Gesetz» der Einmaligkeit Jesu Christi als der Offenbarung des freien, konkreten Willens Gottes über der Welt unterstellt. Geheimnisvoll ist sie, weil sie diesen Anspruch auf Herrschaft (kyriôtes) erhebt aus dem von keiner wissenschaftlichen Warte aus zu überblickenden und zu beurteilenden Mysterium der seinshaften (hypostatischen) Einigung der göttlichen und der menschlichen Natur in Christus, welches Mysterium nunmehr sein Licht und seinen Schatten steiler oder flacher über alle innerweltlichen Geltungen ausbreitet. Denn nicht alles steht in gleicher Nähe zum Zentrum der gottmenschlichen Einigung, und so entsteht wiederum eine Analogie zwischen Gebieten, in denen die Einmaligkeit Christi die abstrakt-allgemeinen Gesetzlichkeiten1 schlechterdings überstrahlt und praktisch ersetzt, und andern Gebieten, deren relative Autonomie praktisch unangetastet verharrt und die sich gleichsam nur einer gelegentlichen indirekten Aufsichtnahme unterziehen müssen. (Fs) (notabene)
17b Warum eine solche Analogie besteht, lehrt der Blick auf ihr Zentrum, auf Jesus Christus selber. Kraft der hypostatischen Einigung ist nichts an ihm, was nicht der Selbstoffenbarung Gottes diente. Er ist als Zentrum der Welt und ihrer Geschichte der Schlüssel zur Deutung nicht nur der Schöpfung, sondern ebenso Gottes. Er ist es nicht allein durch seine Lehre, durch die von ihm vertretene (allgemeine oder besondere) Wahrheit, sondern vor allem und wesenhaft durch seine Existenz. Man kann sein Wort von seiner Existenz nicht trennen; es besitzt seine Wahrheit nur im Zusammenhang seines Lebens, seines Einsatzes für die Wahrheit und Liebe des Vaters bis in den Tod am Kreuz. Ohne Kreuz, und das heißt zugleich ohne Eucharistie, wäre sein Wort nicht wahr, es wäre nicht jenes Zeugnis über den Vater, das das Mit-Zeugnis des Vaters in sich enthält (Joh 8,17), das zweieinige christologische Wort, das Offenbarung des dreieinigen Lebens ist und die souveräne Forderung in sich trägt, geglaubt und befolgt zu werden. Diese Identität von Wort und Existenz ist nicht aus einer fanatischen Selbstvergöttlichung entstanden, die die offenbaren Symptome des Wahnsinns an sich tragen müßte, sondern ist Dienst und Gehorsam dem Vater gegenüber und trägt alle Merkmale dieses Gehorsams. All das ist an der historischen Existenz Jesu nachprüfbar, diese einmalige, besondere Logik, die Christo-Logik, ist für die sich nicht verschließende menschliche Einsicht wahrhaft einsichtig, ganz abgesehen noch von dem zweiten Beweis Christi für seine Sendung: aus der Konkordanz von Weissagung und Erfüllung (der auch den Beweis der eschatologischen Charismatik, der vom Messias zu wirkenden Wunder in sich enthält: Lk 4 usf.), wodurch er die heilsgeschichtliche Entwicklungslinie als auf seinen Höhepunkt hingeordnet, seinem erfüllenden Sinn Untertan und somit seiner Einmaligkeit zugehörig erweist. (Fs) (notabene)
18a Durch diese beiden, streng zusammengeordneten Beweise für die Wahrheit seines Anspruchs beweist Jesus Christus, daß er als der Einmalige zugleich der Herr aller geschöpflichen Normen im Wesensreich und in der Geschichte sein darf. Es gibt also, wo es darum geht, ihn zu erfassen, gar keine Möglichkeit der Abstraktion, des Absehens vom Einzelfall, des Einklammerns unwesentlicher Zufälligkeiten der historischen Darlebung, [eg: sic] weil gerade in der Einmaligkeit das Wesentliche und Normative liegt. In welche Dimension hinein wollte man denn abstrahieren? Weder in die des Allgemein-Menschlichen läßt sein Wort sich auslegen, weil dessen Inhalt sich keinesfalls aus dem Allgemein-Menschlichen ergibt (als ob es bloß eines besonderen Tiefsinns bedurft hätte, um diese allgemeine Wahrheit zu entdecken), noch in die Dimension des allgemeinen Verhältnisses zwischen Gott und Welt, wie es mit der Schöpfung gegeben zu sein scheint, weil Gott sein Verhältnis zur Welt nur dort aufrechterhalten will, wo Jesus Christus der Mittelpunkt dieses Verhältnisses, der Inhalt und Vollzug des ewigen Bundes selber ist. Theologie im strengen Sinn kann also nirgends abstrahieren, überall nur den normativen Inhalt aus dem nicht einzuklammernden Faktum hervorleuchten lassen. Und wo sie sich (was in jedem ihrer Zweige vorkommen wird) allgemeiner Wahrheiten, Sätze und Methoden bedienen muß, dort muß sie zusehen, daß dies alles streng der Anschauung und Deutung des Einmaligen untergeordnet bleibt. (Fs) (notabene)
19a Es ist schwer auszumachen, an welcher Stelle das Abstrakte und Kategoriale innerhalb der Konkretheit der Religion Christi ein spürbares Eigengewicht erhält. In der unmittelbaren Nähe des Herrn gibt es so etwas jedenfalls nicht. So wenig Jesus unter die Kategorie der «Erlösergestalten» fällt, so wenig fällt Maria unter die Kategorie der «Gottesgebärerinnen», der Madonnen, die zugleich jungfräulich und mütterlich zu sein pflegen, unter den Archetypus des «Marianischen überhaupt», der vielleicht seine reinste Verkörperung in der Mutter Jesu gewonnen hat. Kann man Johannes den Täufer unter die Kategorie der «Vorläufer»stellen und dadurch irgendeine vertiefte Kenntnis seines Wesens gewinnen, oder bedeutet das Heranrücken dieser Kategorie nicht bereits ein Verfehlen seiner Einmaligkeit? Und wie steht es mit den Propheten? Ist Ezechiel ein Individuum aus dem Artbegriff «jüdische Propheten», und sind die letztern eine Art innerhalb der religionsphilosophischen Kategorie «Prophet überhaupt», die dann der allgemeinen Religionssoziologie, wie Max Weber sie erfolgreich entfaltet hat, untersteht? Sind die Apostel Exemplare eines begrifflichen Urbildes «Jüngerschaft», das sich in ihnen so gut wie in andern Exemplaren ausdrücken kann? Ist etwa das besondere Verhältnis Jesus-Petrus erhellbar durch das allgemeine zwischen Meister und Jünger, ist die Weise, wie Petrus sein Amt ausübt, verständlich zu machen durch die allgemeine «Psychologie des beauftragten Menschen»? Ist der Glaube eines Christen ein «Fall von Glaube überhaupt», dessen Erforschung einer menschlichen Verhaltenswissenschaft obliegt? Man wird diese Fragen alle mit Nein beantworten müssen, nicht deshalb, weil hier überall nicht eine echte Analogie zwischen dem allgemein menschlichen Gesetz und dem christlichen Sonderfall bestünde, sondern deshalb, weil der Sonderfall - und dies von der Einmaligkeit Christi her — so beschaffen ist, daß er in seiner geschichtlichen Einzelheit zur konkreten Norm der abstrakten Norm geworden ist. Man kann zum Beispiel im Fall des Propheten oder des Apostels den Übergang deutlich feststellen, den Punkt, an welchem der Gehalt der allgemeinen Kategorie so zurücktritt und verblaßt, daß er dem geschichtlich-einmaligen Gehalt gegenüber praktisch belanglos wird, obwohl der allgemeine Gehalt nicht zerstört wird (gratia non destruit naturam), sondern über sich hinaus erhöht und vollendet (elevat et perficit). (Fs) (notabene)
20a In Jesus Christus ist der Logos nicht mehr das die Geschichte regierende und ihren Sinn stiftende Reich der Ideen, Geltungen und Gesetze, er ist selber Geschichte. Im Leben Christi fällt das Faktische mit dem Normativen nicht nur «faktisch», sondern «notwendig» zusammen, weil das Faktum zugleich Auslegung Gottes und gottmenschliches Urbild alles echten Menschentums für Gott ist. Die Fakten sind nicht nur ein phänomenales Gleichnis für eine dahinterstehende Lehre, die daraus abstrahiert werden könnte (wie zum Teil noch die alexandrinische Theologie meinte), sie sind, in ihrer Tiefe und Ganzheit gefaßt, der Sinn selbst. Das geschichtliche Leben des Logos — zu dem sein Tod und seine Auferstehung und Himmelfahrt gehören — ist als solches die eigentliche Ideenwelt, die alle Geschichte normiert, unmittelbar oder reduktiv, aber nicht aus einer ungeschichtlichen Höhe, sondern aus der lebendigen Mitte der Geschichte selbst. Von der höchsten und abschließenden Perspektive aus betrachtet ist es der Quellpunkt des Geschichtlichen überhaupt, von wo alle Geschichte vor und nach Christus ausgeht und worin sie ihre Mitte behält. (Fs) (notabene)
21a Von der Geschichtlichkeit der Christusoffenbarung her gewinnt auf diese Weise der geschichtliche Pol der menschlichen Existenz eine Aufwertung, die sie zum Teil aus einer unberechtigten Gefangenschaft bei der ungeschichtlichen Wesensphilosophie befreit, zum Teil über das rein Philosophische hinaus an der theologischen Faktizität teilnehmen läßt. Nun hat freilich auch die neue religiöse Existenzphilosophie einen Schritt über das alte platonische Schema hinaus getan, indem sie in einer Art Umkehrung die Sphäre des Wesens, des Logos, sich in der Tiefe öffnen läßt auf die sie fundierende Sphäre der Existenz, als Ek-sistenz des Wesens in Zeit und Geschichte hinein, sofern das Zu-kommen des Seins (esse accidens sagte die arabische Scholastik), das Zeit-haben, religiös das Offenstehen für den ankommenden Willen und Befehl Gottes jenes Geschehen ist, in welchem Menschsein sich allererst grundlegt. Ob nun ein solches Denken in dem Sinne vom Christlichen herkommt, daß es als dessen Säkularisation zu bezeichnen ist (somit als illegitime Übertragung ursprünglichen Offenbarungsgutes auf die Ebene der allgemeinen geschöpflichen Wahrheit und der philosophischen Spekulation), oder ob es, was tiefer und gerechter zu sein scheint, als eine legitime Beschreibung von Verhaltungsweisen zu gelten hat, die im Lichte der Offenbarung aus der Konsequenz christlichen Existierens aufscheinen: in jedem Fall ist der theologische Denker veranlaßt, das existenz-philosophische Anliegen als ein seinem eigenen seltsam verwandtes anzuerkennen. Er wird aber nicht oder doch nicht vor allem (wie es etwa Bultmann tut) die Ergebnisse der Existenzphilosophie als gesicherte natürliche Begrifflichkeiten hinnehmen (ähnlich wie die Scholastik die griechischen Denkschemata übernahm), um daraus ein vielleicht geeigneteres Werkzeug zur Interpretation der Offenbarung zu gewinnen, er wird, was etwas ganz anderes ist, den existenzphilosophischen Anliegen mit einem genuin theologischen Ansatz begegnen, sich also um eine eigenständige, von keiner Zeitströmung beeinflußte Existenztheologie (eine Tautologie!) bemühen. Ob diese die Existenzphilosophie überholt, indem sie sie negativ als eine Zerfallsform eines ursprünglich theologischen Anliegens entlarvt, oder ob sie ihr positiv die letzten Fundierungen bietet, die sie aus sich selber nicht zu erarbeiten vermag, wird den Theologen wenig bekümmern. Denn nicht im Seitenblick auf Philosophie sollte die Theologie sich darstellen, sondern im Gehorsamsblick auf Jesus Christus, dessen Stehen in Zeit und Geschichte sie unmittelbar zu beschreiben hat als Kern und Norm aller Geschichtlichkeit. (Fs) (notabene)
22a Die Frage nach diesem Stehen Christi in Zeit und Geschichte wird sich nicht klären lassen ohne die zweite Frage: nach dem Verhältnis seiner Existenz zur Geschichte der Welt und der Menschheit. Sie muß sogleich in zwei Aspekte zerfallen: die «Voraussetzung» von Geschichte überhaupt und von Heilsgeschichte im besonderen für die Möglichkeit der Geschichtlichkeit Christi, und die Voraussetzung der Geschichtlichkeit Christi für die Möglichkeit von Geschichte überhaupt und für Heilsgeschichte im besondern. Im ersten Aspekt erscheint das Leben Christi in dem Sinne als Erfüllung der Geschichte, daß es sich individuell als deren Fülle darlebt, daß also Geschichte überhaupt (mitsamt der Heilsgeschichte) und Geschichte Christi im Verhältnis von Verheißung und Erfüllung stehen. Im zweiten Aspekt, der aus dem ersten notwendig folgt, tritt die in der Kategorie der Erfüllung enthaltene Kategorie der Normierung hervor: das Leben Christi wird Norm jedes geschichtlichen Lebens und somit jeder Geschichte überhaupt. Dieses Normverhältnis kann wieder nach zwei Seiten betrachtet werden: als Qualität dessen, der Norm ist, also Christi, in der ihm selbst zukommenden, seiner persönlichen Geschichtlichkeit anhaftenden Universalität in bezug auf jede Geschichte. Aber auch als Qualität des durch Christus Normierten: des Christen und der Kirche, schließlich des Menschen und der Geschichte im ganzen. Es ergeben sich somit für diese Studie vier Teile:
1. Die Zeit Christi,
2. Der Einschluß der Geschichte in das Leben Christi,
3. Die Person Christi als Norm der Geschichte,
4. Die Geschichte unter der Norm Christi. (Fs) (notabene)

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