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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Prinzipien christlicher Moral

Titel: Prinzipien christlicher Moral

Stichwort: Glaube, Moral: Umriss der Problemlage; Orthodoxie - Orthopraxie (politische Theologie; Wahrheit als Herrschaftsmittel); Behauptung: es gebe keine spezifisch christliche Moral (Hans Küng)

Kurzinhalt: ... ein Lehramt, das ... die Praxis an dieser Wahrheit messen würde, würde als Verhinderung schöpferischer, zukunftsweisender Praxis genau auf die Negativseite der Wirklichkeit versetzt: Es erschiene als Ausdruck der Interessen, die hinter dem Etikett ...

Textausschnitt: Kirchliches Lehramt - Glaube - Moral
Umriß der Problemlage

43a Die Krise des Glaubens, die in zunehmendem Maße die Christenheit bedrängt, zeigt sich immer deutlicher auch als eine Krise im Bewußtsein der Grundwerte menschlichen Lebens. Sie wird so einerseits durch die moralische Krise der Menschheit genährt und wirkt andererseits auch wieder verschärfend auf diese zurück. Wenn man das Panorama der gegenwärtigen Diskussionen zu dieser Frage in seinen großen Umrissen zu erfassen versucht, stößt man freilich auf merkwürdige Gegensätze, die indes doch auch wieder eng zusammenhängen. Auf der einen Seite wird vor allem seit der Versammlung des Weltkirchenrats in Uppsala immer deutlicher ein Trend sichtbar, Christentum primär nicht als «Orthodoxie», sondern als «Orthopraxie» zu definieren. In dieser Option fließen mancherlei Gründe zusammen. Da wäre etwa zu verweisen auf den Ernst, den die Rassenfrage für das Christentum in Amerika gewonnen hat, wo gleiches Bekenntnis dennoch nichts an der Schranke der Trennung zu ändern vermag und damit auch das Bekenntnis in seinem realen Wert in Frage gestellt erscheint, weil es die Wurzel des Evangeliums, die Liebe, nicht lebendig zu machen die Kraft besitzt. Eine praktische Frage wird damit zum Prüfstein für den Realitätsgehalt der Lehre, zum eigentlichen Probefall des Christlichen - wo die «Orthopraxie» so eklatant fehlt, erscheint die «Orthodoxie» als fragwürdig. (Fs)

43b Eine andere Wurzel für die Zuwendung zur «Praxis» liegt in den verschiedenen Strömungen der «politischen Theologie», die ihrerseits unterschiedlich motiviert sind. Gemeinsam ist wohl allen eine starke Betroffenheit von den Fragen, die der Marxismus stellt. Der Begriff der «Wahrheit» erscheint hier in sich als verdächtig, mindestens als wertlos. Insoweit trifft sich dieses Denken mit dem Grundgefühl, aus dem der Positivismus lebt. Wahrheit gilt als unerreichbar, ihre Behauptung als Alibi für Gruppeninteressen, die auf diese Weise verfestigt werden sollen. Allein die Praxis kann (immer nach dieser Ansicht) über Wert oder Unwert von Theorien entscheiden. Wenn also das Christentum etwas zum Aufbau einer besseren Welt beitragen wolle, so müsse es eine bessere Praxis schaffen - die Wahrheit nicht als Theorie suchen, sondern als Wirklichkeit herstellen. Die Forderung, Christentum müsse «Orthopraxie» gemeinsamen Handelns für eine menschlichere Zukunft werden und die Orthodoxie als unfruchtbar oder schädlich hinter sich lassen, erhält hier einen sehr viel grundsätzlicheren Charakter, als von den pragmatischen Ausgangspunkten her der Fall sein müßte, die vorhin geschildert wurden. Zugleich ist klar, daß beide Ansätze dazu tendieren werden, sich miteinander zu verbinden und sich gegenseitig zu bestätigen. Für ein Lehramt bleibt im einen wie im anderen Fall wenig Raum, obgleich es bei konsequenter Durchführung dieser Ansätze auf eine veränderte Form doch wieder auftauchen müßte. Freilich, ein Lehramt, das eine schon gegebene Wahrheit über die rechte Praxis des Menschen formulieren und die Praxis an dieser Wahrheit messen würde, würde als Verhinderung schöpferischer, zukunftsweisender Praxis genau auf die Negativseite der Wirklichkeit versetzt: Es erschiene als Ausdruck der Interessen, die hinter dem Etikett «Orthodoxie» verborgen sind und die sich dem vorwärtsschreitenden Gang der Freiheitsgeschichte entgegenstellen. Andererseits wird zugegeben, daß die Praxis der Reflexion und der reflektierten Taktik bedarf, weshalb die Bindung marxistischer Praxis an das «Lehramt» der Partei durchaus logisch ist. (Fs)

45a Der Denkströmung, die Christentum als Orthopraxie definieren und realisieren möchte, steht am anderen Ende (und freilich oft unvermittelt in sie übergehend) eine Position entgegen, welche sagt, eine spezifisch christliche Moral gebe es gar nicht; das Christentum müsse vielmehr seine Verhaltensnormen jeweils den anthropologischen Erkenntnissen seiner Zeit entnehmen. Der Glaube biete keine selbständige Quelle moralischer Normen an, sondern verweise in diesem Punkt streng auf die Vernunft, und alles, was nicht von ihr gedeckt werde, werde auch nicht vom Glauben getragen. Begründet wird diese Behauptung mit dem Hinweis, daß der Glaube auch in seinen historischen Quellen keine eigene Moral entwickelt, sondern sich jeweils der praktischen Vernunft der Zeitgenossen angeschlossen habe1. (Fs) (notabene)

Fußnote 1 (zu oben):
1 So zuletzt nach anderen H. Küng, Christ sein (München 1974) 5 52 ff: «Das Unterscheidende schon für das alttestamentliche Ethos sind nicht die einzelnen Gebote oder Verbote, sondern ist der Jahweglaube ... Die Weisungen der (zweiten Tafel) ... haben im Vorderen Orient zahlreiche Analogien ... Spezifisch israelisch sind also nicht diese fundamentalen Minimalforderungen ... Spezifisch israelisch ist es, daß diese Forderungen der Autorität des Bundesgottes unterstellt werden ...» (532). Gegenfrage: Ist etwa das Gottesbild Israels ohne Übernahmen und Parallelen aus der Umwelt geworden? Sind im übrigen Orient sittliche und rechtliche Forderungen nicht an die Autorität des jeweiligen Gottes geknüpft worden? Ähnliche Fragen drängen sich auf, wenn Küng in bezug auf das Neue Testament formuliert: «Auch die ethischen Forderungen des Neuen Testaments ... sind weder der Form noch dem Inhalt nach vom Himmel gefallen» (554). Ist das übrige NT vom Himmel gefallen? Es dürfte auf der Hand liegen, daß so nicht argumentiert werden kann.


46a Das lasse sich schon im Alten Testament zeigen, wo die Wertvorstellungen von der Patriarchenzeit bis zur Weisheitsliteratur in einem ständigen Wandel begriffen seien, bedingt durch die Begegnung mit den sich entwickelnden Moralvorstellungen der umliegenden Kulturen. Nirgendwo sei ein Moralsatz nachzuweisen, den es nur gerade im Alten Testament gebe, von dem man sagen müsse, daß er allein Frucht des Glaubens an Jahwe sei; in Sachen Moral sei alles von anderswo übernommen. Das gelte auch für das Neue Testament: Die Tugend- und Lasterkataloge der Apostelbriefe spiegelten stoisches Ethos wider und seien so Übernahme dessen, was damals als Weisung der Vernunft für das menschliche Verhalten gelten mußte. Sie seien daher nicht inhaltlich bedeutsam, sondern strukturell: als Verweis auf die Vernunft als die einzige Quelle moralischer Normen. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß auch von diesem Ausgangspunkt her ein kirchliches Lehramt in Sachen Moral keinen Platz behält. Denn inhaltliche Normierung auf Grund der Überlieferung des Glaubens würde dann ja dem Mißverständnis entspringen, das die Aussagen der Bibel als inhaltliche und bleibende Wegweisungen auffaßt, während sie -nach dieser These - doch nur Verweis auf den jeweilig gegebenen Stand der allein von der Vernunft zu gewinnenden Erkenntnis seien. (Fs) (notabene)

46b Es ist klar, daß im einen wie im anderen Fall grundlegende Probleme des Christlichen zur Debatte stehen, die nicht auf wenigen Seiten zulänglich abgehandelt werden können. Im ersten Fall - wo die Interpretation des Christlichen als «Orthopraxie» nicht nur pragmatisch, sondern grundsätzlich vollzogen wird - steht die Frage nach der Wahrheit und so überhaupt die Grundfrage danach, was die Wirklichkeit ist, zur Debatte. Letzten Endes geht es mit der Seinsfrage um den ersten Glaubensartikel, auch wenn dies im einzelnen keineswegs immer bewußt ist und die Positionen selten in ihrer letzten Radikalität durchgeführt werden. Im zweiten Fall scheint es sich zunächst um ein historisches Einzelproblem zu handeln: um die Frage der historischen Herkunft gewisser biblischer Aussagen. Sieht man näher zu, so stellt sich heraus, daß es dabei um ein grundsätzlicheres Problem geht, nämlich um die Frage, wie das christliche Proprium gegenüber den wechselnden historischen Gestaltungen des Christlichen zu bestimmen ist. Gleichzeitig ist das Problem im Spiel, wie die Kommunikation des Glaubens mit der Vernunft, mit dem Allgemein-Menschlichen zu verstehen ist; schließlich überhaupt die Frage nach Möglichkeit und Grenzen der Vernunft dem Glauben gegenüber2. (Fs)

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