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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: 7. Die Begründung der Völkerwanderungsreiche; König: notwendig für die historische Existenz einer politischen Gesellschaft; Paulus Diaconus: Geschichte d. Langobarden

Kurzinhalt: Um Handlungsfähigkeit zu gewinnen, bedurfte es eines Königs; Verlust des Königs bedeutete Verlust der Handlungsfähigkeit; und wenn die Gemeinschaft nicht handelte, dann brauchte sie keinen König.

Textausschnitt: 7. Die Begründung der Völkerwanderungsreiche

72a Die Durcharbeitung dieser Symbolik war Fortescues persönliche Leistung als Theoretiker. Die Reiche Englands und Frankreichs übten durch ihre Existenz als Machteinheiten einen sichtbaren Einfluß auf die damalige Zeit aus, nachdem der hundertjährige Krieg das Feld der feudalen Besitzstände entwirrt und zur territorialen Abgrenzung der Reiche geführt hatte. Fortescue versuchte zu klären, was es mit diesen sonderbaren neuen Gebilden, den Reichen, eigentlich auf sich hatte; und seine Theorie war die ingeniöse Lösung eines Problems, das die politische Realität stellte. Zu dieser Lösung empfing er jedoch Anregungen aus einem Traditionsbestand, betreffend politische Artikulierung, der sich aus der Zeit der Völkerwanderung, noch vor der Gründung des westlichen Kaisertums, bis ins 15. Jahrhundert erhalten hatte. In einem zu wenig beachteten Abschnitt seines Governance of England nahm er sich eine der vielen Versionen der Gründung von Völkerwanderungs-Königreichen durch eine Gruppe trojanischer Flüchtlinge als Modell für politische Artikulierung. Die Sage von der Gründung westlicher Königreiche durch eine Schar Trojaner, die von einem Sohn oder Enkel des Aeneas angeführt wurde, war weitverbreitet. In den ersten Jahrhunderten westlicher Geschichte diente sie dem Zweck, für die Neugründungen eine Würde gleich der römischen zu beanspruchen. In Fortescues Modell war es eine solche Schar unter Brutus, dem Heros Eponymos der Briten, die für England am Anfang seiner Welt stand. Als eine solch "große Gemeinschaft", so schreibt er, "wie es die Gefolgschaft war, die mit Brutus in dieses Land kam, willens war, sich zu vereinen und einen politischen Körper, genannt das Reich, zu bilden, mit einem Haupt, um es zu regieren, [...] erwählten sie jenen Brutus zu ihrem Haupt und König. Und nach ihrem Zusammenschluß zu einem Reich bestimmten sie und er, daß selbiges Reich durch solche Gesetze, wie sie allen ihnen zustimmten, regiert und verteidigt werde"1. (Fs)

73a Die trojanische Komponente der Sage, die Rivalität mit Rom, ist für uns nur von sekundärem Interesse; aber wir erhalten hier im Gewand der Sage Nachricht über die Artikulierung von Stämmen der Völkerwanderung zu politischen Gesellschaften. Die Sage erzählt von der Anfangsphase eines solchen Prozesses und sie regt an, einen kurzen Blick auf die Originalberichte über solche Gründungen zu werfen sowie auf die Terminologie, in der die Artikulierung geschildert wird. Ich werde zu diesem Zweck einige Stellen aus der Geschichte der Langobarden von Paulus Diaconus auswählen, die in der zweiten Hälfte des B. Jahrhunderts geschrieben wurde. (Fs)

73b Im Bericht des Paulus Diaconus beginnt die aktive Geschichte der Langobarden damit, daß nach dem Tod zweier Herzöge das Volk beschloß, es wolle fortan nicht mehr in kleinen, lose zusammenhängenden Stammesgruppen unter Herzögen leben, sondern "wie die anderen Völker sich einen König setzen".2 Diese Formulierung steht zwar unter dem Einfluß des israelitischen, in Samuel berichteten Verlangens nach einem König wie die anderen Völker, aber der faktische Prozeß der Artikulierung von Stämmen zu einem Reich wird erkennbar berichtet. Als im Verlauf der Wanderung sich der lose Stammesverband als zu schwach erwies, wurde zum Zweck einer wirksameren militärischen und administrativen Führung ein König gewählt; und dieser König wurde aus einer Familie genommen, "die allgemein als besonders vornehm angesehen war". Der Bericht greift zurück bis auf die historisch konkreten Anfänge der Artikulierung. In jener Situation war, erstens, etwas vorhanden, was als das soziale Rohmaterial bezeichnet werden kann, bestehend aus Gruppen auf der Stammesebene, die homogen genug waren, um sich zu einer größeren Gesellschaft zu artikulieren. Ferner ist ein Druck der Umstände erkennbar, von denen der Anstoß zur Artikulierung ausging. Und schließlich gab es Glieder der Gruppe, die durch Charisma des Blutes und der Person hinreichend ausgezeichnet waren, um zu erfolgreichen Repräsentanten zu werden. (Fs)

74a Folgen wir dem Geschichtsschreiber der Langobarden noch etwas weiter. Nach der Wahl eines Königs begannen die siegreichen Kriege. Zuerst wurden die Heruler besiegt und ihre Macht dermaßen gebrochen, daß "sie keinen König mehr hatten"3. Darauf folgte der Krieg mit den Gepiden, in dem das entscheidende Ereignis der Tod des Sohnes des Gepidenkönigs war, "der mehr als andere für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gewesen war"4. Nach dem Tod des Prinzen flohen die Gepiden und wiederum "sanken sie schließlich so tief, daß sie keinen König mehr hatten". Ähnliche Stellen ließen sich aus anderen Geschichtsschreibern der Völkerwanderungszeit zusammentragen. Nur ein bezeichnendes Beispiel möge noch gegeben werden: Isidor von Sevilla berichtet, wie die Alanen und Sueben durch die Goten die Unabhängigkeit ihres Königreichs einbüßten, aber seltsamerweise ihre Königsherrschaft in Spanien auf lange Zeit hinaus beibehielten, "obwohl sie in ihrer ungestörten Ruhe sie gar nicht gebraucht hätten". In der gesamten Geschichtsschreibung der Völkerwanderungszeit, vom 5. bis zum 8. Jahrhundert, wurde über die historische Existenz einer politischen Gesellschaft in der Sprache der Erlangung, des Besitzes oder Verlustes des rex, des königlichen Repräsentanten, berichtet. Um Handlungsfähigkeit zu gewinnen, bedurfte es eines Königs; Verlust des Königs bedeutete Verlust der Handlungsfähigkeit; und wenn die Gemeinschaft nicht handelte, dann brauchte sie keinen König.5 (Fs)

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