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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Die neue Wissenschaft der Politik

Titel: Die neue Wissenschaft der Politik

Stichwort: Theorie der Repräsentation in der westlichen Gesellschaft; Artikulierung d. Gesellschaft, weitere Differenzierung: Fortescue (Analogie des Organismus; corpus mysticum); intentio populi - Volk - mystische Substanz d.

Kurzinhalt: Um näher an diese mysteriöse Substanz heranzukommen, übertrug er das christliche Symbol des corpus mysticum auf das Reich... Die intentio populi ist ... ist vielmehr das nicht faßliche Lebenszentrum der Gesamtheit des Reiches. Das Wort "Volk" bedeutet ...

Textausschnitt: 6. Theorie der Repräsentation in der westlichen Gesellschaft

67a Artikulierung ist die Bedingung der Repräsentation. Um zur Existenz zu gelangen, muß eine Gesellschaft sich artikulieren, indem sie einen Repräsentanten hervorbringt, der für sie handelt. Die Klärung dieser Begriffe kann jetzt weitergerührt werden. Hinter dem Symbol "Artikulierung" verbirgt sich nichts Geringeres als der historische Prozeß, in dem politische Gesellschaften, die Nationen, die Reiche entstehen und vergehen, sowie die zwischen diesen Ausgangs- und Endpunkten stattfindenden Evolutionen und Revolutionen. Dieser Prozeß ist historisch nicht so individuell verschieden für jeden Fall einer politischen Gesellschaft, daß es unmöglich wäre, das Feld der Varianten unter einige allgemeine Typen zu bringen. Das ist jedoch ein großes Thema (Toynbee hat mit ihm zehn Bände gefüllt), und wir müssen es beiseite lassen. Was uns hier angeht, ist die Frage, ob die Implikationen des Begriffs der Artikulierung noch weiter differenzert werden können. Das ist in der Tat möglich, und es liegen eine Anzahl bemerkenswerter Versuche zu weiterer Theoretisierung vor. Der Natur der Sache nach werden solche Versuche immer dann unternommen, wenn die Artikulierung einer Gesellschaft an einem kritischen Wendepunkt angelangt ist; das Problem wird interessant, wenn eine Gesellschaft im Entstehen oder in der Auflösung begriffen ist oder wenn sie sich in einer epochalen Phase ihres geschichtlichen Ablaufs befindet. Ein solcher Einschnitt im Entwicklungsprozeß der westlichen Gesellschaften wurde um die Mitte des 15. Jahrhunderts durch die Konsolidierung der westlichen Nationalstaaten nach dem Hundertjährigen Krieg markiert. In dieser kritischen Epoche unternahm Sir John Fortescue, einer der feinsten politischen Denker Englands, eine Theoretisierung des Problems der Artikulierung. Wir müssen uns ansehen, was er zu ihm zu sagen hatte. (Fs)

77a Die politische Realität, die Fortescue vornehmlich interessierte, waren die Königreiche England und Frankreich. Sein geliebtes England war ein dominium politicum et regale, das was man heute als konstitutionelles Regime bezeichnen würde; das böse Frankreich Ludwigs XI. war ein dominium tantum regale, so etwas wie eine Tyrannei - aber immerhin als Exil nicht zu verachten, wenn das konstitutionelle Paradies zu ungastlich wurde.1 Fortescues Verdienst war es nun, nicht bei einer statischen Schilderung der beiden Regierungstypen Halt gemacht zu haben. Er bediente sich zwar der statischen Analogie des Organismus, wenn er darauf bestand, daß das Reich einen Herrscher so wie der Körper einen Kopf brauche, aber in einer brillanten Passage seines Werkes De Laudibus Legum Anglie verlieh er der Analogie Dynamik, indem er die Schaffung eines Reiches mit dem Entstehen eines gegliederten Körpers aus dem Embryo verglich.2 Ein politisch nicht artikulierter Sozialzustand bricht aus in die Artikulation des Reiches: ex populo erumpit regnum. Fortescue prägte den Ausdruck "Eruption" als terminus technicus für die beginnende Artikulierung einer Gesellschaft, und den Ausdruck: "Proruption" für das weitere Fortschreiten der Artikulierung, wie etwa den Übergang von einem nur königlichen zu einem politischen Reich. Diese Theorie der Eruption eines Volkes ist nicht die Theorie eines Naturzustandes, aus dem ein Volk durch einen Vertrag zu rechtlicher Ordnung gelangt. Fortescue war sich des Unterschiedes wohl bewußt. Um ihn deutlich zu machen, kritisierte er die Definition Augustins, nach der ein Volk eine durch Konsens zu rechter Ordnung und Interessengemeinschaft assoziierte Menge ist. Ein solches Volk, so betonte Fortescue, wäre acephalus, d. h. ohne Haupt, der Rumpf eines kopflosen Körpers; zu einem Reich gelange man nur, wenn ein Haupt errichtet wird (rex erectus est), das den Körper regiert. (Fs)

69a Schon die Schöpfung der Begriffe von Eruption und Proruption ist eine keineswegs geringe theoretische Leistung, denn sie ermöglicht es uns, jene Komponente in der Repräsentation zu erkennen, die fast vergessen wurde, als die Rechtssymbolik der folgenden Jahrhunderte die Interpretation der politischen Realität zu beherrschen begann. Aber Fortescue leistete noch mehr. Er begriff, daß die Analogie des Organismus ihm als Gerüst bei der Konstruktion seines Eruptionsbegriffes dienen konnte, daß sie im übrigen aber nur von geringem Erkenntniswert war. Es war da ein Etwas an einem artikulierten Reich, eine Art Substanz, welche die verbindende Kraft der Gesellschaft lieferte, und dieses Etwas ließ sich mit der organischen Analogie nicht erfassen. Um näher an diese mysteriöse Substanz heranzukommen, übertrug er das christliche Symbol des corpus mysticum auf das Reich. Das war ein bedeutsamer Schritt in seiner Analyse, der in mehr als einer Hinsicht von Interesse ist. Erstens war die Tatsache, daß er überhaupt getan werden konnte, symptomatisch für das Dahinschwinden der in Kirche und Imperium artikulierten christlichen Gesellschaft; und entsprechend war sie symptomatisch für die zunehmende Konsolidierung der Nationalreiche, d. h. für deren Abschließung als Gesellschaften mit einem eigenen Zentrum. Zweitens deutete dieser Schritt darauf hin, daß die Reiche einen eigentümlichen Höchstrang an Ordnung erlangt hatten. Bei der Übertragung des corpus mysticum auf das Reich können wir die Entwicklung auf einen Typus von politischer Gesellschaft hin spüren, der die Nachfolge nicht nur des Imperiums, sondern auch der Kirche antreten wird. Gewiß hat Fortescue solche Folgen nicht einmal in undeutlichem Umriß gesehen; aber seine Übertragung zielte doch auf einen Repräsentanten ab, der die Gesellschaft für den Gesamtbereich menschlicher Existenz einschließlich der geistigen Dimension vertreten würde. Fortescue selbst war sich im Gegenteil bewußt, daß auch die Bezeichnung des Reiches als ein corpus mysticum nur analogisch zu verstehen sei. Das tertium comparationis wäre das sakramentale Band der Gemeinschaft, aber das sakramentale Band konnte für ihn weder der Logos Christi sein, der in den Gliedern des christlichen corpus mysticum lebt, noch ein pervertierter Logos, wie er in modernen totalitären Gemeinschaften lebt. Wenn er sich aber auch nicht klar war über die Implikationen seiner Suche nach einem immanenten Logos der Gesellschaft, so fand er doch eine Bezeichnung für ihn; er nannte ihn die intencio populi. Diese intencio populi ist das lebendige Zentrum des mystischen Leibes des Reiches; Fortescue beschrieb sie, wiederum in einer Analogie aus dem organischen Bereich, als das Herz, von dem aus die politische Vorsorge für das Wohl des Volkes als nährender Blutstrom in Kopf und Glieder des Körpers geleitet wird. Man beachte die Funktion der organischen Analogie in diesem Zusammenhang. Sie dient nicht der Identifizierung eines Gliedes der Gesellschaft mit einem entsprechenden Organ des Körpers, sondern bemüht sich im Gegenteil, zu zeigen, daß das belebende Zentrum eines Sozialkörpers nicht in einem seiner menschlichen Gliederzu finden ist. Die intentio populi ist weder in dem königlichen Repräsentanten noch im Volk als einer Vielheit von Untertanen lokalisiert, sie ist vielmehr das nicht faßliche Lebenszentrum der Gesamtheit des Reiches. Das Wort "Volk" bedeutet in dieser Formel nicht rein äußerlich eine Menge von Menschen, sondern die mystische Substanz, von der her die Eruption zur Artikulierung erfolgt; und das Wort intencio bedeutet den Drang oder Trieb dieser Substanz, aufzubrechen und sich selbst in artikulierter Existenz als ein Seiendes zu behaupten, das kraft seiner Artikulierung für sein Wohlergehen zu sorgen vermag. (Fs) (notabene)

71a Als Fortescue seinen Gedanken in The Governance of England konkret anwandte, unterzog er die Idee des königlichen Repräsentanten noch einer weiteren Klärung, indem er ihn mit der feudalen hierarchischen Auffassung vom königlichen Stand kontrastierte. Nach der feudalen Auffassung war der König "der höchste weltliche Stand auf Erden", im Rang niederer als der geistliche Stand, aber höher als die Lehensträger innerhalb des Reiches.3 Fortescue anerkannte zwar die Ständeordnung innerhalb der Christianitas; er war weit davon entfernt, den Gedanken an einen geschlossenen souveränen Staat zu hegen; aber er zwang das neue corpus mysticum als einen Fremdkörper in den mystischen Leib Christi hinein, wenn er dem königlichen Repräsentanten eine doppelte Funktion zuwies. In der Ordnung der Christianitas blieb der König für ihn der höchste weltliche Stand, aber zugleich faßte er den königlichen Stand als ein Amt auf, das integral den Schutz und das Recht im Reich garantiert. Fortescue zitiert Thomas: "Der König ist für das Reich gegeben und nicht das Reich für den König"; daraus folgert er: Der König ist in seinem Reich, was der Papst in der Kirche ist, ein servus servorum Dei; um dann den Schluß zu ziehen: "Alles was der König unternimmt, sollte auf sein Reich bezogen sein" - die höchstmögliche konzentrierte Formulierung des Repräsentationsproblems.4 (Fs)

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