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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Moral, Lehramt, Moraltheologie; Spannung zw. Lehramt und Theologen; Humane Vitae; Personalismus - Naturalismus

Kurzinhalt: Wenn die Überlegungen des Konzils auf der Einheit von Person und Natur im Menschen basierten, so fing man jetzt an, 'Personalismus' als Gegensatz von 'Naturalismus' hinzustellen

Textausschnitt: Fern von der Gesellschaft und fern vom Lehramt?

86b So also stellt sich für ihn das dramatische ethische Szenarium der liberal-radikalen "Wohlstands"-Gesellschaft dar. Aber wie reagiert auf all dies die katholische Moral theologie?

86c "Die mittlerweile vorherrschende Denkweise greift gerade die Grundlagen der kirchlichen Moral an, die sich, das sagte ich schon, wenn sie sich selbst treu bleibt, der Gefahr aussetzt, als ein anachronistisches Gebilde, ein lästiger Fremdkörper zu erscheinen. Bei ihrem Bemühen, weiterhin in unserer Gesellschaft 'glaubhaft' zu bleiben, finden sich die Moraltheologen der westlichen Hemisphäre vor eine schwierige Alternative gestellt: Es scheint, daß sie sich zwischen dem Widerspruch gegenüber der heutigen Gesellschaft und dem Widerspruch gegenüber dem Lehramt entscheiden müssen. Je nach der Art der Fragen ist die Zahl derjenigen größer oder kleiner, die diesen letzten Typ von Widerspruch vorziehen und sich folglich auf die Suche nach Theorien und Systemen begeben, die Kompromisse zwischen dem Katholizismus und den gängigen Anschauungen erlauben. Aber dieser wachsende Unterschied zwischen Lehramt und 'neuen' Moraltheologien führt zu unabsehbaren Konsequenzen, gerade auch, weil die Kirche mit ihren Schulen und ihren Krankenhäusern noch wichtige gesellschaftliche Rollen (vor allem in Amerika) innehat. So stehen wir folglich vor der schwerwiegenden Alternative: Entweder die Kirche findet zu einer Verständigung, zu einem Kompromiß mit den Werten, die in der Gesellschaft gelten, der sie weiterhin dienen will, oder aber sie entscheidet sich, ihren eigenen Werten treu zu bleiben (und diese sind, ihrer Ansicht nach, jene, die den Menschen in seinen tiefen Bedürfnissen schützen), und dann findet sie sich gerade der Gesellschaft gegenüber im Abseits." (Fs) (notabene)

87a So glaubt der Kardinal feststellen zu können, daß "heute der Bereich der Moraltheologie das Hauptfeld der Spannungen zwischen Lehramt und Theologen geworden ist, zumal hier die Konsequenzen am unmittelbarsten fühlbar werden. Einige Tendenzen möchte ich nennen: Verschiedentlich werden voreheliche Beziehungen, zumindest unter gewissen Bedingungen, gerechtfertigt; die Masturbation wird als ein normales Phänomen in der Entwicklung des Jugendlichen dargestellt; die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten wird ständig neu gefordert; auch der radikale Feminismus kann - besonders in manchen Frauenorden - zusehends in der Kirche vordringen (aber darüber wird noch zu sprechen sein). Selbst in bezug auf die Frage der Homosexualität werden Rechtfertigungsversuche unternommen: Es ist sogar vorgekommen, daß Bischöfe - aufgrund ungenügender Information oder auch aus einem Schuldgefühl von Katholiken einer unterdrückten Minderheit' gegenüber - den gays Kirchen für ihre Veranstaltungen zur Verfügung gestellt haben. Dann gibt es noch den Fall Humanae Vitae, die Enzyklika von Paul VI., die das 'Nein' zu den Kontrazeptiva bekräftigt hat und die nicht verstanden worden ist; sie ist im Gegenteil in weiten kirchlichen Kreisen mehr oder weniger offen abgelehnt worden". (Fs)

88a Aber steht, so frage ich, nicht etwa gerade angesichts des Problems der Geburtenregelung die traditionelle katholische Moral ziemlich hilflos da? Hat man nicht den Eindruck, daß sich das Lehramt hier mangels wirklicher, entscheidender Argumente selbst bloßgestellt hat?

88b "Es ist richtig, daß zu Beginn der großen Diskussion beim Erscheinen der Enzyklika Humanae Vitae 1968 die Argumentationsbasis der dem Lehramt verpflichteten Theologie noch verhältnismäßig schmal war. Aber inzwischen hat sie sich mit neuen Erfahrungen und neuen Reflexionen so erweitert, daß sich die Situation eher umzukehren beginnt. Um das Ganze recht zu verstehen, müssen wir hier allerdings etwas zurückblenden. In den dreißiger oder vierziger Jahren hatten einige katholische Moraltheologen die Einseitigkeit der Ausrichtung der katholischen Sexualmoral auf die Zeugung vom Blick der personalistischen Philosophie her zu kritisieren begonnen. Sie haben vor allem darauf hingewiesen, daß die im kanonischen Recht klassische Betrachtungsweise der Ehe von ihren 'Zwecken' her nicht dem ganzen Wesen der Ehe gerecht werden kann. Die Kategorie 'Zweck' versagt vor den eigentlich menschlichen Phänomenen. Diese Theologen haben keineswegs die Bedeutung der Fruchtbarkeit im Wertgefüge der menschlichen Sexualität geleugnet. Aber sie haben ihr im Rahmen einer mehr personalistischen Betrachtungsweise der Ehe eine neue Stelle zugewiesen. Diese Diskussionen waren wichtig und haben eine bedeutende Vertiefung der katholischen Ehelehre erbracht. Das Konzil hat das Beste dieser Gedankengänge aufgenommen und bestätigt. Aber nun begann sich eine neue Entwicklungslinie abzuzeichnen. Wenn die Überlegungen des Konzils auf der Einheit von Person und Natur im Menschen basierten, so fing man jetzt an, 'Personalismus' als Gegensatz von 'Naturalismus' hinzustellen (so als ob die menschliche Person und ihre Bedürfnisse in Widerspruch zur Natur treten könnten). So hat ein übertriebener Personalismus einzelne Theologen dazu gebracht, die innere Ordnung, die Sprache der Natur abzulehnen (die hingegen nach der beständigen Lehre der katholischen Kirche von sich aus moralisch ist), indem sie der Sexualität, auch der ehelichen, den Willen der Person als alleinigen Bezugspunkt überließen. Hier liegt einer der Gründe dafür, daß Humanae Vitae abgelehnt wurde und daß es für manche Theologien unmöglich ist, die künstlichen Methoden der Empfängnisverhütung abzulehnen."

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