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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Glaube, Krise, Symptome; Erbsünde - Christus; evolutionistisches Weltbild: das Böse als Mangel, Christus als Erlöser nur in der Zukunft

Kurzinhalt: In einer evolutionistischen Welthypothese ... gibt es offensichtlich keinerlei Platz für eine 'Erbsünde'... Eine klare, realistische Betrachtung des Menschen und der Geschichte wird einfach auf deren Entfremdung stoßen, sie wird einfach entdecken ...

Textausschnitt: "Die Erbsünde nicht unterbewerten"

79a Um noch einmal auf die Christologie zurückzukommen: Es gibt Leute, die sagen, sie sei auch deshalb in einer schwierigen Lage, weil jene Wirklichkeit, die die Theologie "Erbsünde" genannt hat, vergessen beziehungsweise geleugnet wird. Und man fügt noch hinzu, daß hierin einige Theologen sich geradezu das Schema einer Aufklärung à la Rousseau zu eigen gemacht hätten, das der modernen Kultur - kapitalistisch oder marxistisch - zugrunde liegt: der von Natur aus gute Mensch, der nur von der falschen Erziehung und von den zu reformierenden gesellschaftlichen Strukturen verdorben sei. Wenn man das "System" ändern würde, müßte alles in Ordnung kommen, und der Mensch könnte im Frieden mit sich selbst und mit den anderen leben. (Fs)

79b Seine Antwort: "Sollte mich eines Tages die Vorsehung von diesen meinen Verpflichtungen befreien, möchte ich mich gerade dem Thema der 'Erbsünde' beziehungsweise der Notwendigkeit einer Wiederentdeckung ihrer eigentlichen Wirklichkeit widmen. In der Tat, wenn man nicht mehr versteht, daß sich der Mensch in einem Zustand der (nicht nur ökonomischen und sozialen und folglich in einer mit seinen eigenen Anstrengungen allein nicht lösbaren) Entfremdung befindet, versteht man nicht mehr die Notwendigkeit des Erlösers Christus. Die ganze Struktur des Glaubens ist somit bedroht. Die Unfähigkeit, die 'Erbsünde' zu verstehen und verständlich zu machen, ist wirklich eines der schwerwiegendsten Probleme der gegenwärtigen Theologie und Pastoral."

80a Vielleicht wäre es aber nötig, sage ich, auch die sprachliche Ebene zu überdenken: Ist der alte, aus der Patristik stammende Ausdruck "Erbsünde" heute noch angemessen?

"Die religiöse Sprechweise zu verändern, ist immer sehr gefährlich. Kontinuität ist hier von großer Bedeutung. Ich halte die zentralen Begriffe des Glaubens, die von den großen Schriftworten stammen, für nicht veränderbar: wie zum Beispiel 'Sohn Gottes', 'Heiliger Geist', Jungfräulichkeit' und 'Mutterschaft'. Ich räume jedoch ein, daß Ausdrücke wie 'Erbsünde' veränderbar sein können, da sie ihrem Inhalt nach zwar auch unmittelbar biblischer Herkunft sind, aber im Ausdruck bereits das Stadium theologischer Reflexion manifestieren. In jedem Fall ist es nötig, mit großer Behutsamkeit vorzugehen: Die Worte sind nicht belanglos, sie sind vielmehr in enger Weise an die Bedeutung gebunden. Ich glaube jedenfalls, daß die theologischen und pastoralen Schwierigkeiten angesichts der 'Erbsünde' gewiß nicht nur semantischer, sondern grundsätzlicher Natur sind."

Und was heißt das im einzelnen?

80b "In einer evolutionistischen Welthypothese (der in der Theologie ein gewisser 'Teilhardismus' entspricht) gibt es offensichtlich keinerlei Platz für eine 'Erbsünde'. Diese ist bestenfalls ein bloß symbolisches, mythisches Ausdrucksmittel, um die natürlichen Mängel einer Kreatur wie des Menschen zu kennzeichnen, der von äußerst unvollkommenen Ursprüngen auf die Vollendung, auf seine endgültige Verwirklichung zugeht. Diese Sicht zu akzeptieren bedeutet jedoch, die Struktur des Christentums auf den Kopf zu stellen: Christus ist aus der Vergangenheit in die Zukunft versetzt; Erlösung würde einfachhin bedeuten, auf die Zukunft als der notwendigen Entwicklung zum Besseren hin zuzugehen. Der Mensch ist nur ein Produkt, das von der Zeit noch nicht vollständig perfektioniert ist; es hat nie eine 'Erlösung' gegeben, weil es keinerlei Sünde gegeben hat, von der man hätte geheilt werden müssen, sondern nur einen, ich wiederhole es, natürlichen Mangel. Und doch sind diese Schwierigkeiten - mehr oder weniger 'wissenschaftlicher' Herkunft -noch nicht die Wurzel der heutigen Krise der 'Erbsünde'. Diese Krise ist nur ein Symptom für unsere tiefgreifende Schwierigkeit, die Wirklichkeit von uns selbst, von der Welt und von Gott wahrzunehmen. Die Diskussionen mit den Naturwissenschaften, wie zum Beispiel der Paläontologie, reichen hier gewiß nicht aus, auch wenn diese Art von Auseinandersetzung notwendig ist. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir uns auch Vorverständnissen und Vorentscheidungen philosophischen Charakters gegenübersehen."
81a Auf alle Fälle verständliche Schwierigkeiten, bemerke ich in Anbetracht des wirklich "geheimnisvollen" Charakters der "Erbsünde", oder wie man sie nennen will. (Fs)

Er sagt: "Diese christliche Wahrheit ist auf der einen Seite ein Mysterium, zum anderen ist ihr aber auch eine gewisse Evidenz eigen. Die Evidenz: Eine klare, realistische Betrachtung des Menschen und der Geschichte wird einfach auf deren Entfremdung stoßen, sie wird einfach entdecken, daß es einen Bruch in den Beziehungen gibt: in den Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu den anderen, zu Gott. Nun, da der Mensch schlechthin Sein-inBeziehung ist, reicht ein derartiger Bruch bis in die Wurzeln und wirkt sich auf alles aus. Das Mysterium: Wenn wir nicht in der Lage sind, die Erbsünde bis in den Grund ihrer Wirklichkeit und ihrer Konsequenzen zu durchdringen, so gerade deshalb, weil sie existiert, weil die Zerrüttung ontologisch ist, weil sie in uns die Logik der Natur aus dem Gleichgewicht bringt und verwirrt, uns daran hindert zu verstehen, wie eine Schuld am Ursprung der Geschichte eine Situation der gemeinsamen Sünde nach sich ziehen kann."
82a Adam, Eva, Eden, der Apfel, die Schlange ... Was sollen wir davon halten?

"Die biblische Erzählung über die Ursprünge berichtet nicht im Sinne moderner Geschichtsschreibung, sondern sie spricht durch Bilder. Es handelt sich um eine Erzählung, die gleichzeitig offenbart und verhüllt. Aber die tragenden Elemente sind einsichtig, und die Wirklichkeit des Dogmas gehört in jedem Fall bewahrt. Der Christ würde seinen Brüdern und Schwestern etwas schuldig bleiben, wenn er ihnen nicht den Christus verkündigen würde, der in erster Linie die Erlösung von der Sünde bringt; wenn er nicht die Realität der Entfremdung (den 'Fall') und gleichzeitig die Wirklichkeit der Gnade verkündigen würde, die uns erlöst, uns befreit; wenn er nicht verkündigen würde, daß für die Wiederherstellung unseres ursprünglichen Wesens eine Hilfe von außerhalb nötig ist; wenn er nicht verkündigen würde, daß das Bestehen auf Selbstverwirklichung, auf Selbst-Erlösung nicht zum Heil führt, sondern zur Zerstörung. Schließlich, wenn er nicht verkündigen würde, daß es für die eigene Rettung nötig ist, sich der Liebe anzuvertrauen."

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