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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Zur Lage des Glaubens

Titel: Zur Lage des Glaubens

Stichwort: Kirche, Krise; Kirchenverständnis (Ekklesiologie) - Ursache der Glaubenskrise; manche Theologen: Kirche nach d. Muster nordamerikanischer Freikirchen; Kirche eingesetzt von Christus - von Menschen gemacht; Volk Gottes - Leib Christi

Kurzinhalt: "Mein Eindruck ist, daß weithin die genuin katholische Bedeutung der Wirklichkeit 'Kirche' stillschweigend verschwindet, ohne daß man sie ausdrücklich verwirft... Für den Präfekten wird die schwierige Lage durch die Tatsache verschärft, daß es nicht ...

Textausschnitt: Das Kirchenverständnis - eine Ursache der Glaubenskrise
A12, E12

45a Krise also. Aber wo befindet sich Ihrer Meinung nach die entscheidende Bruchstelle, der Riß, der sich ständig vergrößert und so die Stabilität des gesamten Gebäudes des katholischen Glaubens bedroht?

45b Für Kardinal Ratzinger gibt es keinen Zweifel: Die Warnung gilt vor allem der Krise des Kirchenverständnisses, der Ekklesiologie: "Hierin liegt die Ursache für einen guten Teil der Mißverständnisse beziehungsweise der tatsächlichen und eigentlichen Irrtümer, die sowohl die Theologie als auch das allgemeine katholische Bewußtsein gefährden." Er führt dazu aus: "Mein Eindruck ist, daß weithin die genuin katholische Bedeutung der Wirklichkeit 'Kirche' stillschweigend verschwindet, ohne daß man sie ausdrücklich verwirft. Viele glauben nicht mehr, daß es sich um eine Wirklichkeit handelt, die vom Herrn selbst gewollt ist. Auch bei einigen Theologen erscheint die Kirche als ein menschliches Konstrukt, als ein Instrument, das von uns geschaffen ist und das somit wir selbst je nach den Erfordernissen des Augenblicks frei umorganisieren können. Das heißt, es macht sich vielfach im katholischen Denken und auch in der katholischen Theologie ein Kirchenverständnis breit, das man auch nicht protestantisch im 'klassischen' Sinn nennen kann. Manche heute gängigen ekklesiologischen Ideen muß man eher dem Muster nordamerikanischer Freikirchen zuordnen, in die damals die Gläubigen flüchteten, um der repressiven Form ihrer von der Reformation hervorgebrachten 'Staatskirche' zu entfliehen. Jene Flüchtlinge schufen, da sie nicht an eine von Christus gewollte institutionelle Kirche glaubten und zugleich der Staatskirche entgehen wollten, ihre Kirche, eine nach ihren Bedürfnissen strukturierte Organisation."

46a Wie sieht es dagegen für die Katholiken aus?

"Für einen Katholiken - erklärt er - setzt sich die Kirche zwar auch aus Menschen zusammen, die ihr äußeres Erscheinungsbild gestalten; aber hinter diesem sind die grundlegenden Strukturen von Gott selbst gewollt und somit unantastbar. Hinter dem menschlichen Äußeren steht das Mysterium einer übermenschlichen Wirklichkeit, in die einzugreifen Reformern, Soziologen und Organisatoren keinerlei Autorität zukommt. Wird die Kirche hingegen als ein menschliches Gebilde, als unser Machwerk angesehen, so werden letztlich auch die Inhalte des Glaubens beliebig: Dem Glauben fehlt dann in der Tat ein authentisches und verläßliches Ausdrucksmittel. Ohne eine auch übernatürliche und nicht bloß soziologische Sicht des Mysteriums der Kirche verliert auch gerade die Christologie ihren Bezug zum Göttlichen zugunsten einer rein menschlichen Struktur und kommt schließlich einem menschlichen Projekt gleich. Das Evangelium wird zum Jesus-Projekt, zum Projekt sozialer Befreiung oder zu anderen nur geschichtlichen, immanenten Projekten, die sich noch als religiös gebärden mögen, in der Substanz aber atheistisch sind."

46b Während des II. Vatikanums wurde - in den Wortmeldungen einiger Bischöfe, in den Reden ihrer theologischen Berater, aber auch in den verabschiedeten Dokumenten sehr der Begriff der Kirche als "Volk Gottes" betont, eine Auffassung, die dann in den nachkonziliaren Ekklesiologien dominierend wurde. (Fs)

47a "Das stimmt, es gab und es gibt diese Akzentsetzung, die sich jedoch in den Konzilstexten mit anderen, die sie ergänzen, die Waage hält; ein Gleichgewicht, das bei vielen Theologen verlorengegangen ist. Anders aber als diese denken, riskiert man auf diese Weise, daß man zurückgeht anstatt vorwärts. Es besteht hier sogar die Gefahr, daß man das Neue Testament verläßt, um ins Alte zurückzukehren. Die Bibel meint mit 'Volk Gottes' in der Tat das Volk Israel in seiner Gebetsbeziehung und Treue zum Herrn. Aber sich allein auf diesen Ausdruck zu beschränken, um die Kirche zu definieren, bedeutet, ihr neutestamentliches Verständnis nicht in seiner Ganzheit aufzuzeigen. Hier verweist 'Volk Gottes' in der Tat immer auf das alttestamentliche Element der Kirche, auf ihre Kontinuität zu Israel. Aber ihr neutestamentliches Merkmal erhält die Kirche deutlicher in dem Begriff 'Leib Christi'. Man ist nicht Kirche und man wird nicht ihr Mitglied durch die soziologische Zugehörigkeit, sondern eben durch die Eingliederung in diesen Leib des Herrn durch die Taufe und die Eucharistie. Hinter dem heute so ausschließlich in den Vordergrund gestellten Kirchenbegriff 'Volk Gottes' verbergen sich wiederum Einflüsse von Ekklesiologien, die de facto zum Alten Testament zurückkehren; und vielleicht auch politische, parteiliche und kollektivistische Einflüsse. In Wirklichkeit gibt es keinen wirklich neutestamentlichen, katholischen Kirchenbegriff ohne direkten und vitalen Bezug nicht nur zur Soziologie, sondern zuerst zur Christologie. Die Kirche erschöpft sich nicht im 'Kollektiv' der Gläubigen: Indem sie 'Leib Christi' ist, ist sie weitaus mehr als die Summe ihrer Glieder." (Fs) (notabene)

47b Für den Präfekten wird die schwierige Lage durch die Tatsache verschärft, daß es nicht möglich scheint, in einem so vitalen Punkt wie der Ekklesiologie über den Weg von Verlautbarungen eine Klärung herbeizuführen. Obwohl es auch an diesen nicht gefehlt hat, wäre seiner Ansicht nach eine Arbeit notwendig, die in die Tiefe geht: "Es ist nötig, wieder ein echt katholisches Klima zu schaffen, den Sinn der Kirche als Kirche des Herrn, als Raum der realen Gegenwart Gottes in der Welt wiederzufinden. Jenes Mysterium, von dem das II. Vatikanum spricht, wenn es jene in erschreckender Weise herausfordernden und doch der gesamten katholischen Tradition entsprechenden Worte schreibt: 'Die Kirche, das heißt das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi' (Lumen gentium, Art. 3)."

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