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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Methode in der Theologie

Titel: Methode in der Theologie

Stichwort: Funktionale Spezialisierung; Dialektik als Methode; Grundanschauungen, Entwicklung, Verfall, Wendepunkte; intentionales Bewusstsein: Konflikt (Position - Gegenposition)

Kurzinhalt: Unsere vierte funktionale Spezialisierung geht über den Bereich der gewöhnlichen empirischen Wissenschaft hinaus... In dem Maße, wie sich die Untersuchung immer weiter ausdehnt, kommen Ursprünge und Wendepunkte ans Licht, Blüte und Verfall ...

Textausschnitt: 6. Dialektik als Methode

51/X Nachdem wir die Struktur einer Dialektik skizziert haben, ist nun zu fragen, ob sie der Definition von Methode genügt. Sie stellt offensichtlich ein Schema aufeinander bezogener und wiederkehrender Vollzüge dar. (254; Fs)

52/X Aber noch ist zu prüfen, ob die Ergebnisse weiterführend und kumulativ sind. Demzufolge prüfen wir, was geschieht, erstens, wenn die Dialektik von einer Person ausgeführt wird, die die intellektuelle, moralische und religiöse Bekehrung durchgemacht hat, und zweitens, wenn sie von jemandem ausgerührt wird, der noch keine intellektuelle oder moralische oder religiöse Bekehrung durchgemacht hat. (255; Fs)

53/X Im ersten Fall weiß der Forscher aus persönlicher Erfahrung, was intellektuelle, moralische und religiöse Bekehrung ist. Es wird ihm nicht schwerfallen, Positionen von Gegenpositionen zu unterscheiden. Wenn er Positionen entwickelt und Gegenpositionen umkehrt, wird er eine idealisierte Version der Vergangenheit bieten, etwas Besseres, als es die Wirklichkeit war. Zudem werden all diese Forscher zu einer Übereinstimmung tendieren und werden darin auch zum Teil von anderen Forschern unterstützt, die auf einem oder zwei, nicht aber auf allen drei Gebieten eine Bekehrung durchgemacht haben. (255; Fs)

54/X Im zweiten Fall dürfte der Forscher nur über das verfügen, was Newman notionales Erfassen (notional apprehension) der Bekehrung nennen würde, und er mag sich beklagen, daß Dialektik ein recht nebelhaftes Verfahren sei. Doch zumindest würde er radikal entgegengesetzte Aussagen erkennen. Auf dem Gebiet oder den Gebieten, auf denen ihm die Bekehrung fehlt, würde er Gegenpositionen fälschlich für Positionen und Positionen für Gegenpositionen halten. Wenn er daran ginge, das zu entwickeln, was er für Positionen hält, und das umzukehren, was er als Gegenpositionen ansieht, so würde er in Wirklichkeit Gegenpositionen entwickeln und Positionen umkehren. (255; Fs)

55/X Während die Durchführung der Dialektik im ersten Fall zu einer idealisierten Version der Vergangenheit führte, führt ihr Vollzug im zweiten Fall genau zum Gegenteil; sie stellt die Vergangenheit schlimmer dar, als sie wirklich war. Schließlich gibt es sieben verschiedene Wege, auf denen man dahin gelangen kann, denn der zweite Fall beinhaltet

(1.) jene, die überhaupt keine Bekehrungserfahrung haben,
(2.) jene, die eine Erfahrung nur intellektueller oder nur moralischer oder nur religiöser Bekehrung haben, und
(3.) jene, denen nur die intellektuelle oder nur die moralische oder nur die religiöse Bekehrung fehlt. (255; Fs)

56/X Wir möchten diesen Kontrast noch etwas mehr konkretisieren. Unsere vierte funktionale Spezialisierung geht über den Bereich der gewöhnlichen empirischen Wissenschaft hinaus. Sie begegnet Personen. Sie anerkennt die Werte, die jene vertreten. Sie mißbilligt deren Unzulänglichkeiten. Sie untersucht genau deren intellektuelle, moralische und religiöse Annahmen. Sie greift bedeutende Gestalten heraus, vergleicht ihre Grundanschauungen und unterscheidet Prozesse der Entwicklung und Prozesse der Verirrung. In dem Maße, wie sich die Untersuchung immer weiter ausdehnt, kommen Ursprünge und Wendepunkte ans Licht, Blüte und Verfall religiöser Philosophie, Ethik und Spiritualität. Und wenn auch nicht alle Gesichtspunkte vertreten sein mögen, besteht doch die theoretische Möglichkeit, die vierte funktionale Spezialisierung auf acht ganz unterschiedliche Arten auszuführen. (255f; Fs)

57/X Solche Divergenz ist jedoch nicht auf künftige Forscher beschränkt. Positionen und Gegenpositionen sind nicht bloß kontradiktorische Abstraktionen. Sie sind konkret zu verstehen als entgegengesetzte Elemente im fortschreitenden Prozeß. Sie müssen in ihrem eigenen dialektischen Charakter erfaßt werden. Menschliche Authentizität ist nicht eine reine Qualität, ist nicht friedliche Freiheit von jeglichem Versehen, von jedem Mißverständnis, von allen Fehlern und Sünden. Sie besteht vielmehr in einem Rückzug aus der Nicht-Authentizität, aus der Unechtheit, und dieser Rückzug ist nie eine permanente Errungenschaft. Er ist immer prekär, muß immer wieder von neuem unternommen werden und bleibt stets zum großen Teil eine Sache der Aufdeckung noch weiterer Versehen, des Eingeständnisses weiterer Verstehensmängel, der Korrektur weiterer Fehler und immer tieferer Reue über verborgene Sünden. Kurz, die menschliche Entwicklung erfolgt weithin durch die Auflösung von Konflikten, und im Bereich des intentionalen Bewußtseins sind die Grundkonflikte durch den Widerstreit von Positionen und Gegenpositionen bestimmt. (256; Fs) (notabene)

58/X Nur durch ein Vorankommen in kognitiver und moralischer Selbst-Transzendenz, wodurch der Theologe seine eigenen Konflikte überwindet, kann er hoffen, die Ambivalenz, die in anderen am Werk ist, zu erkennen, wie auch das Maß, in dem sie ihre Probleme lösten. Nur durch solche Einsicht darf er hoffen, all das recht zu würdigen, was in der Vergangenheit im Leben und Denken selbst von Gegnern intelligent, wahr und gut gewesen ist. Nur durch solche Einsicht kann er zur Anerkennung all dessen kommen, was an Desinformation, Mißverständnis, Irrtum und Bösem selbst in jenen vorhanden war, mit denen er verbunden ist. Zudem beruht ein solches Vorgehen auf Gegenseitigkeit. Wie es unsere eigene Selbst-Transzendenz ist, die uns fähig macht, andere richtig zu erkennen und fair zu beurteilen, so gelangen wir umgekehrt dazu, uns selbst zu erkennen und unsere Wertwahrnehmung auszuweiten und zu verfeinern, indem wir andere erkennen und würdigen. (256; Fs) (notabene)

59/X Soweit also die Forscher zusammenstellen, vervollständigen, vergleichen, reduzieren, klassifizieren und selektieren, bringen sie die dialektischen Gegensätze ans Licht, die in der Vergangenheit bestanden. Sofern sie eine bestimmte Ansicht zur Position erklären und ihr Entgegengesetztes zur Gegenposition und dann dazu übergehen, die Positionen zu entwickeln und die Gegenpositionen umzukehren, liefern sie sich gegenseitig die Evidenz für ein Urteil über ihre eigene persönliche Leistung an Selbst-Transzendenz. Sie enthüllen damit jenes Ich, das die Forschung betrieb, die Deutungen anbot, die Geschichte untersuchte und Werturteile abgab. (256f; Fs) (notabene)

60/X Eine derartige Objektivierung der Subjektivität ist so etwas wie eine Probe aufs Exempel. Wenn sie auch nicht automatisch wirkt, so gibt sie den Aufgeschlossenen, den Seriösen und den Aufrichtigen doch eine Gelegenheit, sich selbst einige Grundfragen zu stellen, zuerst über andere, schließlich aber auch über sich selbst. Sie thematisiert die Bekehrung und fördert sie dadurch. Ihre Ergebnisse werden sich weder sofort einstellen noch aufsehenerregend sein, da Bekehrung für gewöhnlich ein langsamer Reifungsprozeß ist. Sie besteht darin, daß man für sich selbst und in sich selbst entdeckt, was es heißt, einsichtig zu sein, rational zu sein, verantwortlich zu sein und zu lieben. Die Dialektik trägt zu diesem Ziel bei, indem sie letzte Differenzen herausstellt, das Beispiel anderer vor Augen führt, von denen man sich völlig unterscheidet, und indem sie uns Gelegenheit zur Reflexion gibt, zu einer Selbstprüfung, die zu einem neuen Verständnis des eigenen Ich und des eigenen Schicksals führen kann. (257; Fs)

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